Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Visite bei Vollmond

Visite bei Vollmond

Titel: Visite bei Vollmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassie Alexander
Vom Netzwerk:
ich es dir sagen würde,
müsste ich dich anschließend töten, Mädchen!« Einen Moment lang musterte er
mich betont nachdenklich, dann zupfte er seinen Kragen zurecht, um sich vor den
letzten Sonnenstrahlen zu schützen. »Und wenn ich sagen würde, dass mir das
leidtue, wäre das eine Lüge.«
    Damit zog er sich den Hut ins
Gesicht und trat in die Abenddämmerung hinaus.
    Scheiße, scheiße,
scheiße. Im Fahrstuhl dachte ich über alles nach. Da ich mitten in der
Nachmittagsschicht kam, war der Umkleideraum zum Glück leer. Vorsichtshalber
überprüfte ich auch den Waschraum, bevor ich heimlich einen Anruf machte.
    Â»Zentrale für
Tageslichtagenten, wir kümmern uns um Ihre ruchlosen Bedürfnisse«, meldete sich
eine melodische Frauenstimme.
    Â»Sike? Ist Anna da?«
    Â»Sie ist in Klausur«, erklärte
Sike. Im Hintergrund klang es so, als würde jemand packen: Schubladen wurden
geöffnet, und Stoff raschelte.
    Â»Ich bin Dren begegnet, Sike.«
    Â»Wirklich?« Sie gab ein
nachdenkliches Schnurren von sich. »Den habe ich schon eine ganze Weile nicht
mehr gesehen. Wie geht es ihm denn? Wirkte er einsam?«
    Â»Er will, dass ich ihm
Werwolfblut aus dem Krankenhaus besorge.«
    Â»Hm. Über Geschmack lässt sich
eben streiten.« Die Packgeräusche gingen weiter.
    Â»Er sagt, wenn ich es nicht
mache, wird er meinen Bruder aussaugen.« Was genau zurzeit auf Y4 los war, durfte ich ihr
nicht verraten, aber ich war sicher, sie wusste bereits Bescheid. Und nur weil
ich mich für Annas Zukunft interessierte, hieß das schließlich noch lange
nicht, dass ich von allen anderen Vampiren herumgeschubst werden wollte.
    Â»Klingt so, als würdest du in
einem moralischen Dilemma stecken.« Im Hintergrund schloss sie offenbar eine
Schranktür.
    Â»Keineswegs.« Stirnrunzelnd
starrte ich auf den Boden. Aber sollte ich das nicht? Eigentlich schon, und
trotzdem … »Werdet ihr mich vor ihm schützen können, wenn Annas Zeremonie
vorbei ist, Sike?«
    Sie unterbrach noch einmal, was
auch immer sie am anderen Ende der Leitung gerade tat. »Ich weiß es nicht. Das
werden wir mit Anna besprechen müssen. Aber …«
    Â»â€¦Â die befindet sich in
Klausur. Na großartig.«
    Â»Du bekommst deine Antwort in
einer knappen Woche. Und unter Freunden: Was ist da schon ein bisschen Blut?«
Damit legte Sike auf. Bei unseren bisherigen Begegnungen waren sie und ich
nicht besonders gut miteinander ausgekommen. Mir war schleierhaft, warum ich
gedacht hatte, das würde bei diesem Gespräch anders sein.
    Der Bildschirmschoner auf
meinem Handy präsentierte mir die Uhrzeit. Verdammt, ich war spät dran.
    Ich zog
mich um, verstaute mein Restepaket im Kühlschrank im Pausenraum und rannte dann hoch auf die
Unfallintensiv, wobei ich mein persönliches Mantra vor mich hin betete: nur
vier Stunden, Feiertagszuschlag, nur vier Stunden, Feiertagszuschlag.
    Es ist immer komisch, als
Springer auf einer fremden Station zu arbeiten. Ich hatte schon so oft
ausgeholfen, dass ich inzwischen überall in der Klinik im Umkreis von fünf
Metern die Kochsalzlösung finden konnte, aber auf jeder Station gab es gewisse
Gewohnheiten und gewisse Leute, mit denen man sich besser nicht anlegte.
    Aus Erfahrung wusste ich, dass
die Stationsschwester auf der Unfallintensiv zu dieser Kategorie gehörte. Ich
betrat die Station und ging zu ihrem Tisch.
    Â»Edie Spence, ich bin heute
hier Springer«, meldete ich mich an.
    Die Stationsschwester beachtete
mich nicht weiter. »Sie kommen zu spät.«
    Â»Tut mir leid, viel Verkehr.«
Wir wussten beide, dass heute Weihnachten war und das deswegen nicht stimmen
konnte. Ohne aufzusehen, zeigte sie hinter sich.
    Â»Ihre Patienten finden Sie auf
dem Brett, Pause machen Sie um neun. Wenn Sie zu spät kommen, wird sie
gestrichen.«
    Â»Alles klar, danke.«
    Ich schrieb mir die
Zimmernummer meines Patienten auf und trottete den Flur hinunter.
    Auf der Unfallstation
war es immer laut – sogar noch lauter als auf Y4 , und der Trubel
herrschte rund um die Uhr. Jedes Mal, wenn ich dort war, wurde gerade jemand
eingeliefert und gleichzeitig jemand entlassen, um Platz zu schaffen. Zum einen
waren da die normalen Krankenhausgeräusche: Maschinen, Pumpen, Beatmungsgeräte
– aber sie wurden überlagert von Stimmen, die plauderten, weinten oder weinend
plauderten.

Weitere Kostenlose Bücher