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Visite bei Vollmond

Visite bei Vollmond

Titel: Visite bei Vollmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassie Alexander
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Besucher. Sie waren das unangenehmste, wenn ich tagsüber reinkam.
Besucher waren nie gut. Selbst die glücklichsten unter ihnen hatten immer
irgendwelche Probleme. Es ist eine Sache, ob man sich selbst als hoch
qualifizierte Kellnerin mit Zugang zu Betäubungsmitteln sieht – und eine ganz
andere, wenn man von Fremden als solche behandelt wird. Immer und immer wieder.
    Aber es war nun einmal
Weihnachten. Und hier passierten tragische Dinge, einfach weil es eben die
Unfallstation war. Man konnte die Besucher zwar bitten, sich zurückzuhalten,
aber man konnte sie nicht alle rauswerfen.
    Ich machte mich auf die Suche
nach meinem Patienten und war nicht überrascht, als mein Besucherradar mir
verriet, dass die lautesten unter ihnen in meinem Krankenzimmer hockten. Na
klar – immer auf den Springer.
    Als Springer bekam man entweder
die einfachsten Fälle, weil sie einem nichts zutrauten, die schwierigsten, weil
es ihnen egal war, wenn man unterging, oder die mit der schlimmsten Familie,
weil alle anderen es satthatten, sich mit denen auseinanderzusetzen. Ich blieb
in der Tür stehen und sah hinein.
    An jedem einzelnen Infusionsständer
hing ein Rosenkranz. Vor mir hockte eine ganze Latinofamilie, aber den
Hauptlärm veranstaltete eine weinende alte Frau, die ihre Version des
Klassikers »Why God, Why?« vorjammerte. Im Krankenhaus wollte jeder Antworten
von Gott, aber er war nie da, um sie ihnen zu geben. Bei meinem Erscheinen
schaute die Frau auf, und ich konnte sehen, dass die Tränen und der eifrige
Taschentuchgebrauch eine ihrer aufgemalten Augenbrauen vernichtet hatten. Neben
ihr tigerte ein alter Mann auf und ab, und neben dem Kopf des Bettes stand eine
jüngere Frau und strich dem Patienten über die Wange. Ihr gegenüber stand die
Schwester, die ich ablösen sollte. Sie war gerade dabei, eine Infusionspumpe
neu einzustellen.
    Â»Hallo?« Ich klopfte gegen den
Türrahmen, woraufhin die Schwester zu mir rauskam.
    Ihr Bericht war barsch und ohne
jede Emotion. Die Schwestern auf der Unfallintensiv lebten nach dem Motto:
Alles schon mal da gewesen. Zeuge einer
Schießerei zwischen Gangmitgliedern. Schussverletzung an der Wirbelsäule.
Lähmungserscheinungen, die sich ausbreiten werden, wenn die Schwellung nicht
nachlässt. Zufuhr von Vasopressoren, um den Blutdruck hochzuhalten.
    Der Einschlag des Schusses, der
Druck der Kugel oder die folgende Schwellung hatten der Wirbelsäule des
Patienten einiges zugemutet. Dadurch war er jetzt schon bewegungsunfähig, und
wenn sich die Schädigung ausbreitete, würde sie ihm Zentimeter für Zentimeter
jede Empfindung rauben. Meine Vorgängerin und ich überprüften gemeinsam die
Infusionen und machten Drucktests an der Körperseite des Patienten. Nachdem wir
die Stelle ermittelt hatten, an der die Taubheit begann, markierten wir sie mit
einem violetten Filzstift. Das erinnerte mich an die Rätselbilder, bei denen
man die Punkte miteinander verbinden musste, immer einen nach dem anderen. Die
Wehklage auf Spanisch ging ununterbrochen weiter.
    Als die alte Krankenschwester
ging, nutzte ich die Gelegenheit und zog mich ebenfalls zurück, um das
Krankenblatt gegenzuzeichnen und Einlieferungsbericht und Verlaufsnotizen zu
überfliegen.
    In Wahrheit aber versteckte ich
mich.
    Auf der Schwesternschule hatten
wir ein paar Kurse über Sozialverhalten belegen müssen, aber darin lernte man
kaum etwas Wissenswertes über fremde Kulturen, sondern nur, dass man zu fremden
Kulturen besonders nett sein sollte. Dieser Teil war bei mir so gut hängen
geblieben, dass ich inzwischen selbst zu Vampiren besonders nett sein konnte.
    Also las ich ein wenig in der
Krankenakte und versuchte, dabei möglichst kompetent zu wirken. Dabei fand ich
heraus, was ich bereits wusste: In diesem Zimmer lag Javier Rodriguez,
männlich, achtzehn Jahre alt. Und er würde noch im Laufe dieser Nacht jedes
Gefühl unterhalb der Halswirbelsäule verlieren.
    Ich klappte die Krankenakte zu,
sandte ein stummes Gebet aus, dass die Ärzte alle kniffligen Fragen bereits in
fließendem Spanisch beantwortet haben mochten, und ging hinein.

Kapitel 16
    Â 
    Javier
hatte kurzes schwarzes Haar und breite Schultern. Außerdem trug er ein
Krankenhaushemdchen und eine Halskrause aus Kunststoff, die seinen Nacken vor
Druck schützen und jede Drehbewegung verhindern sollte.
    Die junge Frau neben
ihm, die gerade seinen Kopf streichelte,

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