Visite bei Vollmond
mir war, ihn zu zwingen, etwas darzustellen, was
er nicht war, nur damit ich mich besser fühlte. »Wenn du willst, kannst du
gerne eine Gestalt annehmen, die bequemer für dich ist.«
»Schon okay. Ich muss sowieso
gehen.« Er zog wieder an dem Hemd, hielt dann aber unvermittelt inne. »Es sei
denn â¦Â« Seine Lippen verzogen sich zu einem hoffnungsvollen Lächeln, als er
mich ansah.
Sein Interesse war wirklich
schmeichelhaft, doch dann schämte ich mich für dieses wohlige Gefühl. Ich sagte
mir, dass nichts Schlimmes daran war, wenn mein Gegenüber attraktiv ist. Der
Verlust von Ti hatte weder mein Herz erfrieren lassen noch mich blind gemacht
gegen Schönheit. Und bei der Arbeit hatte ich gelernt, dass man Trauer auf
viele verschiedene Arten ausleben konnte. Ich durfte Asher also mit ins
Schlafzimmer nehmen und bis zum Beginn meiner Schicht eine ganze Menge Dinge
ausleben. Hinterher würde ich mich vielleicht schuldig fühlen, aber er war die
Art von Partner, bei dem die Schuldgefühle es auf jeden Fall wert waren.
Mein Handy klingelte. Hastig
nahm ich den Anruf an. Es war das automatische Telefonsystem des County, das
fragte, ob ich vier Stunden früher anfangen und so eine halbe Zusatzschicht auf
der Unfallintensiv machen wollte. »Ja«, sagte ich möglichst deutlich und legte
dann auf. »Das war die Arbeit. Ich muss früher rein«, erklärte ich
entschuldigend, während ich das Telefon wegsteckte.
Asher erhob sich schwungvoll.
»Dann vielleicht ein anderes Mal.«
Ich wollte weder Versprechungen
machen noch offene Türen schlieÃen. »Vielleicht. Und vielen Dank für die
Informationen und den Armreif, Asher.«
Er zog seinen Mantel an, der
zum Glück Asher-GröÃe hatte. »Gern geschehen. Danke für das Essen.«
Er schob sich in meinem engen
Flur an mir vorbei. Ich hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen, wusste aber
absolut nicht, was das sein sollte. SchlieÃlich stellte ich mich auf die
Zehenspitzen und gab ihm ein Küsschen auf die Wange, so wie er es getan hatte,
als er mich vorhin begrüÃt hatte. Erst wirkte er überrascht, dann übertrieben
bestürzt.
»Wie konnte ich, der groÃartige
Asher, nur in die niederen Gefilde reiner Freundschaft abrutschen?«
»Weil du ein Freund bist.« Ich
öffnete die Wohnungstür. »Keine Sorge, die Gefilde der Erotik schicken manchmal
Kekse â und hin und wieder sogar ein Rettungsboot.«
Ein amüsiertes Lächeln huschte
über sein makelloses Gesicht. Für einen Moment stand er so dicht vor mir, dass ich
sein SüÃgras-Aftershave riechen konnte, dann ging er hinaus.
»Fröhliche Weihnachten, Asher.«
»Bis bald, Edie.«
Ich blieb noch so lange in der
Tür stehen, bis er sicher in seinem Wagen saà und weggefahren war. Dabei fragte
ich mich, ob meine Entscheidung richtig gewesen war. Immerhin heilten manche
Wunden am schnellsten, wenn man einfach das Pflaster abriss.
Zumindest konnte ich so noch
ein kleines Nickerchen machen. Deshalb legte ich meinen neuen Armreif in das
Kästchen, das Annas Dolch beherbergt hatte, und versuchte etwas zu schlafen.
Kapitel 15
Â
An
Weihnachten bekamen immer unglaublich viele Leute die Grippe. Andere beliebte
Tage für Massenerkrankungen waren Thanksgiving, Silvester und der Unabhängigkeitstag.
Falls man es nicht schaffte, sich selbst etwas einzufangen, gab es bestimmt
irgendein pflegebedürftiges Familienmitglied, oder aber man musste sich ganz
dringend um eine inkontinente Katze kümmern. Allerdings durfte die
Pflegeverwaltung aufgrund gewisser Gewerkschaftsvorschriften bei uns nicht
nachfragen, warum man sich krankmeldete. Das war gut zu wissen, falls ich mal
einen freien Tag brauchte, um nicht durchzudrehen.
In meinem Fall hätte ich heute
akute Blindheit angeben können: Als ich aufstand, war ich genauso müde, wie ich
befürchtet hatte, und machte mich deshalb mit halb geschlossenen Augen auf den
Weg. Auf dem Besucherparkplatz war sogar ganz nah am Eingang noch etwas frei â
kein Wunder, für den Rest der Welt war immer noch Weihnachten. Für mich
hingegen war der Feiertag bereits gestern gewesen, und mein heute war für alle
anderen morgen. Wenn man nicht aktiv dagegen ankämpfte, brachten Nachtschichten
das Zeitgefühl völlig aus dem Gleichgewicht, ganz besonders im Winter, wenn
alles grau und dunkel war. Dieser Tag bildete da keine
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