Visite bei Vollmond
musste seine Schwester sein â oder
seine Freundin. Sie war eine Schönheit: schmale, geschwungene Brauen über
groÃen, stark geschminkten Augen, rot konturierte Lippen, deren künstliche
Farbe durch die wiederholten Küsse auf Javiers Stirn etwas verblasst war. Ihre
glatten, schwarzen Haare waren so lang, dass sie sich über Javiers Oberkörper
ergossen.
»Hallo, ich bin Edie, die
zuständige Schwester für die nächsten vier Stunden«, stellte ich mich über das
Jammern der Mutter hinweg vor. Javier grunzte.
Ich checkte seinen Blutdruck
und seine Temperatur, prüfte den Puls und hörte seinen Brustkorb ab. Auf einem
schmalen Verband unter dem rechten Schlüsselbein war ein getrockneter Blutfleck
zu sehen. Vorsichtig fuhr ich mit einem Filzstift die Konturen nach, um ihn
sichtbar zu machen, falls die Wunde wieder aufriss.
»Haben Sie Schmerzen?«
Javier warf mir einen kurzen
Blick zu und starrte dann wieder an die Decke. »Nein. Ãberhaupt keine.«
Die Frau an seiner Seite nickte
und streichelte ihn stumm weiter. Seine Mom schluchzte wortlos vor sich hin.
»Kann ich sonst noch etwas für
Sie tun?«, fragte ich an alle gerichtet.
»Kaffee«, erwiderte die nicht weinende
Frau. Eindeutig die Freundin. Ich erkannte es an dem Blick, mit dem sie ihn nun
musterte.
»Aber gern«, sagte ich schnell
und ging.
Ich wanderte an den
anderen Zimmern der Unfallstation vorbei. In keinem waren die Leute besonders
fröhlich. Verstärkt durch die Jahreszeit sorgte das für eine echt düstere
Stimmung. Ich ging zu einem Versorgungsraum und machte Kaffee. Gerade als ich
dabei war, einen leeren Becher mit abgepacktem KaffeeweiÃer und Zuckertütchen
zu füllen, verkündete ein Lautsprecher, dass die Besuchszeit für heute beendet
sei.
Als ich auf dem Rückweg am
Tisch der Stationsschwester vorbeikam, rief sie mir zu: »Hey, Springer,
schicken Sie Ihre Leute nach Hause.«
Ich brauchte einen Moment, um
zu begreifen, wen sie damit meinte. »Alle? Kann nicht zumindest einer von ihnen
bleiben?«
»Das dulden wir hier nicht.«
Stirnrunzelnd musterte ich sie.
»Aber jetzt kann er noch etwas spüren â bis morgen früh wird er empfindungslos
sein«, erklärte ich.
»Und?«
Ich versuchte es anders. »Es
ist doch Weihnachten.«
»Nur bis Mitternacht, dann ist
der sechsundzwanzigste Dezember.«
»Dann darf also bis Mitternacht
jemand bleiben?«, fragte ich möglichst unschuldig und charmant. Ich wollte
nicht die Böse sein. Diesmal nicht.
Sie hörte auf zu tippen und drehte
sich zu mir um. »Eine Person. Und die sollte besser eine Mitfahrgelegenheit
haben, uns sind nämlich die Bustickets ausgegangen.«
Ich nahm, was ich kriegen
konnte. »Okay, danke.«
Wortlos wandte sie sich wieder
ihrem Computer zu.
Vorsichtig schlich ich mich
mit meinen halbwegs guten Nachrichten zurück in Javiers Zimmer. »Ich habe die
Erlaubnis eingeholt, dass einer von Ihnen noch bis Mitternacht bleiben darf.«
Obwohl ich mich dafür hasste, hoffte ich, der Auserwählte möge nicht seine Mom
sein.
»Luz«, flüsterte Javier. Mir
war sofort klar, wen er meinte.
Javiers Mutter heulte wieder
los und tupfte sich das Gesicht ab. Wenn das so weiterging, hatte die zweite
Augenbraue auch keine Chance mehr. Ich wartete drauÃen, während sie sich
verabschiedeten. Sie umarmten ihn alle. Es würde das letzte Mal sein, dass er
es spüren konnte. In meiner Kehle bildete sich ein KloÃ, und auch wenn ich noch
so fest schluckte, verschwand er nicht. Ich kam mir vor, als würde ich sie
belauschen, also klappte ich die Krankenakte auf und versuchte mich unsichtbar
zu machen.
»Hübsches Mädchen. Schade, dass
sie ausgerechnet mit ihm zusammen ist«, sagte plötzlich jemand neben mir.
Ãberrascht schaute ich hoch. Es war Sike. Sike war eine Tageslichtagentin des
Throns der Rose, und auch wenn Anna ihr vertraute â ich tat es nicht.
Tagsüber arbeitete Sike als
Model und war deshalb ein Profi, was Schönheit betraf, aber jetzt trug sie kaum
Make-up und hatte ihre roten Haare zu einem Dutt aufgesteckt. Ihr schlanker
Körper steckte in einem schlichten Laborkittel. Auf der Brusttasche waren der
Name Veronica Lambridge und die Bezeichnung »Labortechnikerin« eingestickt. Ich
wusste, dass Sike weder eine Veronica noch Labortechnikerin war. Sie führte mir
ihren Kittel vor.
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