Visite bei Vollmond
musste und
nach Kotze roch. Ich öffnete meinen Spind und band mir vor dem kleinen Spiegel,
der innen an der Tür hing, meinen Pferdeschwanz neu. Dabei bemerkte ich im
oberen Fach das Geschirrtuch, in das ich Annas Dolch gewickelt hatte.
Ich würde das jetzt
durchziehen, schlieÃlich hatte ich es ihr versprochen. Doch danach ⦠mal sehen.
Ich zupfte meine frische OP -Kleidung zurecht, lieà meinen Dienstausweis aus
dem Oberteil baumeln und schlug mit Wucht die Spindtür zu.
Der Rest der Nacht zog
wie ein Nebelschleier an mir vorbei. Winters Pflege war ungefähr so sinnvoll,
als würde man die Liegestühle auf der Titanic umstellen. Er lieà sich
widerstandslos umdrehen, und die schwarzen Verfärbungen an Zehen und Fingern
breiteten sich immer weiter aus â langsam, aber unaufhaltsam. Ich half Rachel,
ich half Charles, ich half Meaty und konnte es kaum erwarten, dass der Morgen
kam.
Da ich keinen Bericht abliefern
musste, stahl ich mich so früh wie möglich davon. Woher sollte ich wissen, ob
mich meine Werwolfleibwache auch wirklich schützen konnte? Ich hätte mit Helen
ein Passwort vereinbaren sollen.
Nachdem ich den Fahrstuhl
verlassen hatte, ging ich Richtung Ausgang und suchte die Sofas in der Halle
ab, entdeckte aber kein bekanntes Gesicht.
»Suchen Sie jemanden?«, fragte
eine irgendwie vertraute Stimme. Als ich mich umdrehte, erhob sich Lucas gerade
von einem der Sessel.
»Oh ⦠Sie?«
»Jawohl.« Er sah so mitgenommen
aus wie ich mich fühlte. Seine Kleidung war zerknittert, sein Gesicht wirkte
verhärmt, und er roch nach SchweiÃ.
»Waren Sie etwa die ganze Nacht
hier?«
»Bin direkt von den Kämpfen
hergekommen. Ich hatte Angst, Sie zu verpassen, wenn ich im Auto schlafe.« Er
lieà die Schultern kreisen, um die Verspannungen zu lösen, und grinste. »Gott
sei Dank ist bald Vollmond, sonst müsste ich Sie um Ibuprofen bitten,
Schwester.«
Ich schnaubte abfällig. »Bitte
verzeihen Sie die Umstände. Es waren ja nur zwei schäbige kleine Mordversuche.«
Hätte diese Frau mich letzte Nacht erwischt, hätte ich etwas mehr als Ibuprofen
gebraucht, um die Schmerzen zu betäuben.
»Tut mir leid, das war wohl
nicht besonders witzig.« Er deutete mit dem Kopf Richtung Ausgang. »Gehen wir
raus auf den Parkplatz, hier sind zu viele Leute. Dann können wir uns einen
Plan überlegen.«
Ich folgte ihm auf den
Besucherparkplatz, vorbei an den Kollegen der Tagesschicht und den
Krankenhausbürokraten, die gerade ihren Dienst antraten. Bürohengste und
Sozialarbeiter, Ãrzte und Anwälte, all die fleiÃigen Bienchen, die den Stock am
Leben erhielten.
»Haben Sie letzte Nacht noch
irgendetwas herausgefunden?«, fragte ich, als wir an meinem Wagen ankamen.
Lucas schüttelte den Kopf.
»Noch nichts. Wir sind immer noch auf der Jagd nach Viktor.«
»Und Sie sind sicher, dass er
dahintersteckt?«
»Viktor hat Winter überfahren.
Sie haben das mit angesehen, auch wenn Sie sich nicht im Detail daran erinnern
können. Viktor ist hinter Ihnen her, weil er Angst hat, dass Sie ihn verraten
könnten«, erklärte Lucas achselzuckend.
»Und das wissen Sie mit
absoluter Sicherheit?«, fragte ich, weil ich das von mir bestimmt nicht
behaupten konnte.
»Vertrauen Sie mir. Viktor und
mich verbindet eine gemeinsame Vergangenheit, und zwar stärker, als uns beiden
lieb ist.« Er starrte in den Schnee, dann schüttelte er sich wie ein nasser
Hund und sah mich an. Er lächelte. »Es sei denn, Sie haben noch andere Feinde,
von denen ich wissen sollte?«
»Bevorzugen Sie die lange oder
die kurze Liste?« Ich lehnte mich gegen meine alte Mühle. »Ich habe mich nur
gefragt, ob er sich vielleicht mit ein paar Vampiren zusammengetan hat.«
Lucas erstarrte regelrecht vor
Ãberraschung, dann lachte er. »Werwölfe und Vampire? Nein. Nie und nimmer.«
»Sind Sie sicher?«
»Absolut. Wir hassen sie. Mag
ja sein, dass Viktor mein Rudel ebenfalls hasst, aber er ist immer noch ein
Werwolf; die Vampire hasst er noch mehr. Wir müssen Sie einfach nur beschützen,
bis wir ihn aufgespürt haben. Ich bin wirklich froh, dass Sie uns um Hilfe
gebeten haben.«
Und trotz der Kälte und der
Tatsache, dass immer noch mysteriöse Werwölfe und wahrscheinlich auch Vampire
hinter mir her waren, sagte ich: »Ich auch.«
Die Müdigkeit traf mich
Weitere Kostenlose Bücher