Visite bei Vollmond
an und alles. Ich holte mir einen Müllsack für meine
verdreckten Klamotten â vielleicht sollte ich in Zukunft immer vorsichtshalber
einen dabeihaben â und packte meine Sachen. Minnie saà sowieso noch in der
Katzenbox und jaulte missbilligend.
»Und ich kann Sie ganz sicher
nicht umstimmen?«, fragte Lucas, als ich mit Minnie ins Wohnzimmer zurückkam.
Er musterte mich prüfend. »Ich verspreche, dass Ihnen heute Nacht kein Leid
geschehen wird.«
»Gerade haben Sie mir noch
erzählt, wie leicht man sich im tiefen, dunklen Wald verirren kann. Da fällt es
mir schwer, Ihnen das zu glauben.«
Lucas lachte leise und schaute
zu Boden. »Das war ein Fehler.«
»Ich würde Ihnen zu gerne
vertrauen, Lucas. Aber wahrscheinlich ist gerade das der beste Grund, um zu
gehen.«
Als ich mich nach meinem Becher
bückte, um ihn in die Küche zu bringen, fauchte Minnie hinter mir plötzlich.
Ich drehte mich zu ihr um, aber sie sah nicht mich an â¦
Lucas war verschwunden.
Stattdessen stand dort ein Wolf, so groà wie das Sofa. Ich wich zurück. Das
Tier nahm so viel Raum ein, dass ich das Gefühl hatte, kaum noch atmen zu
können. Kein Tier â Lucas. Sein Fell hatte die Farbe einer alten Kupfermünze,
ein dumpfes Rot mit grauen Streifen. Minnie fauchte immer noch.
»Meinst du wirklich, du
könntest mich überzeugen, indem du meine Katze erschreckst?« Wer siezt schon
einen Wolf? Ich nahm die Katzenbox und stellte sie auf das Sofa, möglichst weit
weg von ihm. Als ich mich wieder umdrehte, hatte er sich hingesetzt und
beobachtete mich mit seinen rötlichen Augen. Dann legte er sich auf den Bauch
und machte sich ganz lang. Mit gesenktem Kopf kroch er auf mich zu, bis er nur
eine Armeslänge entfernt war. Dabei lieà er mich nicht aus den Augen, während
ich in die Knie ging und versuchte, mich möglichst still zu verhalten.
Er hätte angreifen können. Er
hätte gewonnen. Doch stattdessen kam er vorsichtig näher, bis seine feuchte
Nase fast an meinen Oberschenkel stieÃ.
Ich streckte die Hand aus und
lieà meinen Finger gegen den Strich über seine Schnauze gleiten. Lucas der Wolf
schloss die Augen. Dadurch ermutigt, streichelte ich über seine Brauen. Das
Fell war nicht richtig weich, sondern fühlte sich anders an, als ich gedacht
hatte. Wie eine Mischung aus Borsten und Fell, gleichzeitig fest und nachgiebig.
Ich lieà meine Hand über seinen Nacken gleiten und drückte sie dann tief in den
Pelz, bis ich die harten Muskeln darunter spüren konnte.
Er drehte gemächlich den Kopf
zur Seite und stieà mit den Zähnen gegen mein Handgelenk. Dann fuhr seine
warme, raue Zunge über meine Hand.
Es klopfte. Mein Taxi war da.
Ich wollte die Hand
zurückziehen, aber er umfasste sie vorsichtig mit seinen Kiefern. Seine Zähne
waren zwar nicht spitz, sie fühlten sich eher an wie stumpfe Bleistifte, aber
trotzdem konnte er mit ihnen theoretisch mein Handgelenk zermalmen â und dann
würde ich nie wieder Krankenblätter ausfüllen können.
Endlich lieà er los und sah
mich treuherzig an.
Wieder klopfte es, diesmal
lauter und nachdrücklicher.
»Die Welt ist voller
geheimnisvoller Pfade ⦠von deinem Hundeblick lasse ich mich aber trotzdem
nicht vom rechten Weg abbringen.«
Lucasâ Brauen und Lippen
verzogen sich zu einem wahrhaft wölfischen Grinsen. Er setzte sich auf,
knabberte mit seinen gar nicht so schrecklichen Zähnen an meinem Oberarm und
leckte mich am Hals. Ich schloss die Augen und schob ihn lachend von mir
runter, bis ich plötzlich Haut unter meinen Fingern spürte.
»Ich bin ein Wolf, kein Hund.«
Er saà dicht neben mir auf dem Boden, splitterfasernackt. Meine Hände lagen
noch auf seiner Brust, und mit einem leisen Schrei zog ich sie zurück. »Hast du
wirklich so groÃe Angst vor mir?«
»Nein. Sollte ich aber, und das
ist das Problem.«
»Ich will nicht, dass du Angst
hast, Edie.« Ich spürte die fast schon fieberhafte Wärme, die sein Körper
abstrahlte. Er war wunderschön, und jetzt konnte ich wirklich alles von ihm
sehen: die Tätowierungen, die sich über beide Arme zogen, den schlanken Bauch,
den harten Schwanz.
Während der vergangenen Wochen
war ich ständig wütend, frustriert, grüblerisch oder verängstigt gewesen. Das
hier war einfach und würde sich verdammt gut anfühlen, wenn ich
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