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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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altfränkische Burg mit den filigranen steinernen Spitzen, die voller Feindseligkeit auf den Allmächtigen zu zeigen schienen. Und obwohl mir klar war, dass ich diesen Architekturstil und seine Absicht falsch beurteilte -
    denn er war für die Deutschen und die Franzosen ein Symbol für die Hinwendung zu Gott, ehe Florian und sein Hof vom Blutroten Gral sich dieses Stils bemächtigt hatten -, so konnte ich doch das verhasste Bild nicht aus meinem Geiste verbannen.
    Während ich diese florentinischen Bauwerke betrachtete, entspannte ich all meine Glieder in dem krampfhaften Bemühen, mich nicht schon wieder zu übergeben.
    Der riesige Mönch, ein Bär von einem Mann, der mich mit steter, unveränderter Freundlichkeit anstrahlte, trug mich auf seinen stämmigen Armen durch das Kloster, durch den glühend heißen Garten, während andere in ihren wehenden schwarzen und weißen Kutten herbeiliefen und uns, noch im Laufen, zu umringen schienen. Ich konnte meine Engel nicht mehr sehen, doch diese Männer mit ihren schmalen, strahlenden Gesichtern kamen Engeln so nahe, wie es auf Erden nur möglich ist.
    Da ich das Kloster schon früher besucht hatte, merkte ich schnell, dass man mich nicht in das Hospital brachte, wo an die Kranken von Florenz Medikamente ausgeteilt wurden, aber auch nicht in die Unterkünfte für die Pilger, in denen es ständig von Opfernden und Betenden wim-melte, sondern man brachte mich ins obere Stockwerk, direkt in die Halle, von der die Zellen der Mönche abgin-gen.
    In einem Anflug von Übelkeit überwältigte mich plötzlich die Schönheit und zog mir die Kehle zusammen, als ich am Kopfende des Flures über die Wand ausgebreitet Fra'
    Giovannis Fresco Die Verkündigung erblickte.
    Mein Gemälde! Die Verkündigung! Mein auserwähltes Gemälde, das Gemälde, das mir mehr bedeutete als jedes andere religiöse Motiv. Nein, es war natürlich nicht mein genialer, chaotischer Filippo Lippi, nein, aber es war mein Gemälde, und sicherlich war das doch ein Omen dafür, dass kein böser Geist eine Seele durch das Gift aufgezwungenen Blutes der Verdammnis anheim geben konnte.
    Ist dir Ursulas Blut denn aufgezwungen worden? Abscheulicher Gedanke! Verbanne die Erinnerung daran, wie sich ihre weichen Finger von dir lösen mussten, du Tor, du trunkener Tor, verbanne die Erinnerung an ihre Lippen, an die langen Küsse, durch die sie das dickflüssige Blut in deinen Mund träufeln ließ.
    »Seht euch das an!«, rief ich aus und zeigte mit einem unsicheren Arm auf das Gemälde.
    »Ja, ja, es gibt hier so viele davon«, sagte der große, lä-
    chelnde, bärenhafte Mönch.
    Natürlich hatte das Fra' Giovanni gemalt. Wer hätte das nicht auf den ersten Blick sehen können? Außerdem kannte ich es. Und Fra' Giovanni - und ich will Sie noch einmal daran erinnern, dass er später als Fra' Angelico bekannt war - hatte beide, Engel und Jungfrau, sehr ernst, sanft, zärtlich, aber auch sehr schlicht dargestellt, durchdrungen von Demut und bar jeder Ausschmückung; und die Szene spielte zwischen tiefen Rundbögen, wie sie auch hier in diesem Kloster zu finden waren.
    Während der kräftige Mönch mit mir auf dem Arm in den breiten Gang einbog - und breit war der Gang, so herrlich glänzend und streng und schön in meinen Augen -, versuchte ich Worte zu finden, denn das Bild dieses gemalten Engels haftete in meinem Gedächtnis. Sollten sie noch um mich sein, wollte ich Ramiel und Setheus erklä-
    ren: Seht, Gabriels Schwingen bestehen nur aus einfachen bunten Streifen, und seht, sein Gewand fällt ganz symmetrisch in ordentlichen Falten. All das konnte ich sehr gut erkennen, wie ich auch die übermächtige Hoheit meiner beiden Engel erkannte, doch ich faselte nur wieder unverständliches Zeug.
    »Die Heiligenscheine«, sagte ich. »Ihr zwei, wo seid ihr?
    Über eurem Haupt schweben auch Heiligenscheine. Ich habe es gesehen. Bei euch draußen in der Gasse wie auch auf dem Gemälde. Aber auf dem Bild von Fra' Giovanni ist der Heiligenschein flach, eine feste goldene Scheibe, direkt auf die glatte Leinwand gemalt.«
    Die Mönche lachten. »Mit wem sprecht Ihr, junger Signore di Raniari?«, fragte einer. Und der riesenhafte Mönch sagte mit dröhnender Bassstimme, deren Vibra-tionen ich durch seine gewölbte Brust hindurch spürte:
    »Sei ruhig, Kind. Du bist bei uns gut aufgehoben. Und nun musst du still sein, denn dort, siehst du, ist die Bibliothek. Siehst du dort die Brüder arbeiten?«
    Darauf waren sie stolz, nicht wahr?

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