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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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hauchdünnes Leichentuch aus gesponnenem Gold gehüllt. An drei Wänden des Gewölbes waren sie aufgereiht. Am äußersten Ende hing die abgebrochene Trep-penkonstruktion ins Leere. Ich blinzelte und kniff die Augen zusammen, und das Licht schien sich stärker auf sie zu fokussieren. Ich näherte mich der ersten Gestalt so weit, dass ich ihr tief burgunderrotes, leichtes Schuhwerk und das Beinkleid von tiefstem Kastanienrot erkennen konnte, über das sich zartestes Gewebe spannte, als ob Seidenraupen das Leichentuch jede Nacht aufs Neue für sie spännen, so dicht und vollkommen und fein war es.
    Aber, ach, dergleichen Zauberdinge gab es hier nicht; es war nur das Beste, was Gottes Kinder herstellen konnten.
    Menschen erzeugten es auf ihren Webstühlen, und den Saum hatten sie mit feiner Stickerei versehen.
    Ich riss das dünne Gewebe fort. Als ich mich näher an den angewinkelten Arm der Kreatur heranschob, merkte ich zu meinem jähen Entsetzen, dass sich ihre schlafbe-täubte Miene belebte. Ihre Augen öffneten sich, und ein Arm schlug gewalttätig nach mir aus. Gerade rechtzeitig wurde ich aus dem Umkreis dieser klammernden Finger gezerrt, und als ich mich umblickte, sah ich, dass Ramiel mich gepackt hatte. Er schloss die Augen und drückte seine Stirn gegen meine Schulter. »Nun kennst du ihre Tricks. Sei auf der Hut. Sieh, das Geschöpf nimmt seine alte Stellung wieder ein. Es wägt sich in Sicherheit. Es schließt die Augen.«
    »Was mache ich nun? Ha, ich werde es töten!«, be-schloss ich.
    Während ich die Hülle mit einer Hand wegriss, hob ich mit der anderen das Schwert, und als sich nun der Arm wieder ausstreckte, fing ich ihn mit dem Tuch ein und ließ gleichzeitig das Schwert niedersausen, wie der Henker es am Richtblock tut. Der Kopf des Geschöpfs rollte über den Boden und gab einen grässlichen Ton von sich, der nicht einmal unmittelbar aus der Kehle zu kommen schien. Der Arm fiel herab. Offensichtlich konnten diese Wesen bei Tage nicht so gut kämpfen wie nachts - wie damals bei meinem ersten Kampf, als ich meinen Angreifer enthauptet hatte. Ha, ich hatte gesiegt!
    Ich packte mir den Schädel, dessen Augen nun geschlossen waren, wenn sie sich überhaupt zwischendurch ge-
    öffnet hatten; aus dem Mund kam noch Blut, doch ich schleuderte ihn in die Mitte der Kammer direkt ins Tageslicht unter dem Schacht. Sofort begann die Sonne das Fleisch zu versengen.
    »Seht nur, der Schädel beginnt zu brennen!«, sagte ich, ohne innezuhalten. Ich ging zum nächsten Wesen, dies-mal eine Frau mit langem geflochtenem Haar, riss die Hülle fort und überantwortete sie in der Blüte ihres Da-seins diesem gespenstischen Tod, indem ich ihren Arm in die Stoffmassen wickelte und ihr mit Wucht den Kopf abschlug, den ich dann an den Haaren aufhob und zu dem anderen hinüberwarf. Der erste Kopf schrumpelte schon und färbte sich unter dem aus der Öffnung einfallenden Licht schwarz.
    »Luzifer, siehst du das?«, schrie ich, so dass der Klang quälend in meinen Ohren hallte. »Siehst du's? Siehst du's?«
    Ich hastete zu dem nächsten Körper. Ich griff nach der Hülle und rief überrascht: »Florian!« Das war ein schrecklicher Fehler.
    Als er seinen Namen hörte, riss er die Lider auf, noch ehe ich auf gleicher Höhe mit ihm war, und er wäre wie eine Marionette an ihrem Seil in die Höhe geschossen, wenn ich ihm nicht einen heftigen Stoß mit dem Schwert versetzt hätte, der ihm die Brust aufschlitzte. Ausdruckslos sank er zurück zu Boden. Ich ließ das Schwert auf seinen weichen, herrschaftlichen Hals niedergehen. Sein blondes Haar war blutverklebt, seine Augen verdrehten sich, wurden leer und erloschen, während ich ihn noch betrachtete.
    An den langen Haaren riss ich ihn hoch, ihn, körperlos, wie er nun war, ihn, diesen Anführer der Dämonen, diesen beredten Unhold, und warf sein Haupt auf den rau-chenden, stinkenden Haufen.
    Und so machte ich immer weiter, ging an der Reihe nach rechts entlang - ich weiß nicht, warum gerade rechts, au-
    ßer dass ich nun einmal diese Richtung eingeschlagen hatte -, und jedes Mal zog ich die Hülle fort, sprang schleunigst vor, umschlang, den bedrohlichen Arm mit dem Tuch, und dann rollte der Kopf. Alles ging so schnell, dass ich bald ungenau zielte und sehr unschön Kiefer oder gar Schulterblätter zerschmetterte; aber ich tötete sie!

    Ja, ich tötete sie!
    Ich riss die Köpfe hoch und schleuderte sie auf den wachsenden Berg, der inzwischen so viel Rauch erzeugte, als brennte

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