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Viviane Élisabeth Fauville

Viviane Élisabeth Fauville

Titel: Viviane Élisabeth Fauville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Deck
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Turnschuhnaht, und ich fahre fort mit den Worten Ich weiß, ja, ich weiß, dass du ein Patient des Doktors warst.
    Der Junge hebt unwillkürlich die Augen.
    Wir haben nicht wirklich Glück mit ihm gehabt, was? sage ich, wobei ich ihm komplizenhaft zuzwinkere und nebenbei unter dem Tisch über sein Knie streiche. Tony macht einen Satz, sein zu langer Pony fällt weich auf seine von Streifen des Entsetzens durchzogene Stirn. Ich sage Verzeihung, das ist die Gewohnheit. Wir Krankenschwestern sind es so sehr gewohnt, die Leute anzufassen, dass wir gar nicht mehr darauf achten. Jetzt entspannt er sich, seine Lippen verraten, dass er beinahe Lust hätte zu lächeln. Krankenschwester, das ist ihm recht. Er weiß, dass man diesen sanften und professionnell mütterlichen Frauen nichts übelnehmen darf: Wenn sie einen lieben, so aus beruflicher Deformation.
    Danach ist es recht einfach. Ich höre ihm zu, wie er alle möglichen Dinge erzählt, die ich schon weiß, er weiß, dass ich sie weiß, habe ich ihm doch gerade mitgeteilt, dass ich eine Patientin des Arztes war, aber das ist ihm egal. Er erzählt mir seine Erfahrung mit dem dicken Armleuchter, wie er ihn nennt, der alle seine Lügenmärchen schluckte: Man musste gesehen haben, wie er weich wurde, wie er ihn mit Sanftmut zu nehmen versuchte, wo Tony doch nur Eisen und Fäuste achtete.
    Der Junge ist es nicht gewohnt, ein Publikum zu haben. Er geht mir auf die Nerven, aber ich höre ihm weiter lächelnd zu, und als er gerade anhebt, mir die gleiche Geschichte zum dritten Mal zu erzählen, unterbreche ich ihn und sage Gehen wir zu dir. Er scheint überrascht, zögert. Will ablehnen, besinnt sich aber anders. Wir verlassen das Lokal, nachdem ich unsere Kaffees bezahlt habe, gehen bis zur Metrostation und nehmen die Linie 8 gegen den Strom der Menge, die sich nach Westen bewegt, wo die Bürogebäude stehen. Wir steigen an der Station Montgallet aus.
    Tony wohnt noch bei seinen Eltern, aber die sind zur Arbeit weg, und ich erfahre, dass sie Apotheker sind. Das wundert mich, weil ich von seinem Aussehen, das dem eines lausigen Hundes gleicht, darauf geschlossen hatte, er sei aus einer Familie von Trinkern oder unheilbar Arbeitslosen hervorgegangen. Dann erinnere ich mich an Verbrechen, über die in der Zeitung berichtet wurde, an Statistiken, die ich gelesen habe, und die zeigen, dass Misshandlungen zwar in benachteiligten sozialen Schichten häufiger vorkommen, dass aber die anderen nicht davon verschont sind.
    Ihre Unterkunft ist, wie sich zeigt, auf der Höhe meiner Vorurteile. Im Flur erstreckt sich ein löchriges, von Fallen übersätes Parkett, in alle Fugen sind Holzsplitter eingepflanzt. Ich sehe zwei Räume, ein Wohn- und ein Schlafzimmer mit funktionalem, zusammengewürfeltem Mobiliar. Das riecht nach Erbe, nach Onkeln und Tanten, die sich in der Nachkriegszeit in damals modernen Vorstadthäuschen niedergelassen haben. Aber wo ist dein Zimmer, sage ich zu Tony, der auf eine Tür am Ende des Flurs zeigt, die ich für den Zugang zu einer Abstellkammer gehalten hatte. Ich lege auf meinen Lippen eine zartfühlende Mitleidsmiene zurecht und folgere Du hast wirklich Pech.
    Tony mustert mich böse, dann zuckt er mit den Schultern und zieht mich in die Küche, wo er einen Kaffee zubereitet. Ich lasse den Blick schweifen, zum Spülbecken, wo Ablagerungen braunrote Formen gezeichnet haben, auf die mit fettem Staub bedeckten Regale. Deine Eltern, sage ich schließlich, scheinen sich nicht besonders viel um dich zu kümmern, stimmt’s?
    Er ballt die Fäuste, ich setze noch eins drauf und sage Das ist offensichtlich, man sieht sofort, dass du an Liebesmangel gelitten hast, sonst hättest du nie getan, was du im Juni am Ausgang des Paul-Valéry-Gymnasiums getan hast – die Zeitung schrieb Das arme Mädchen, aber ich habe gleich gedacht Der arme Junge.
    Er lässt die Kaffeekanne los, die mit einem Geräusch von Zimbeln zu Boden fällt
    Ã¶ffnet die Fäuste
    tritt einen Schritt vor
    ich sehe ihn an
    er sieht mich an
    plustert seine Kleinganovenmuskeln auf
    er ist so lustig
    ich muss lachen
    ich renke mir das Kinn aus vor Lachen
    dann eskaliert ich-weiß-nicht-was in mir
    ich greife an.
    Lippen auf den seinen, zittern, befühlen, beißen, driften ab zur Ohrmuschel, Zunge an Ohrläppchen, Hände unterm T-Shirt, Gänsehaut. Finger, die zwicken, zum Hals

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