Vögelfrei
mich zu dem Jungen um, der mich mitfühlend ansah und sich dabei die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht strich. Er hatte seine Zorromaske noch nicht abgenommen, und ich stellte mir vor, wie absurd wir aussehen mussten. Ein Zorro und daneben ein verkokelter, kotzender Engel mit seinen Flügeln im Papierkorb. Ich fing an zu lachen. Der Junge lächelte.
»Wenigstens haben Sie Ihren Humor behalten«, sagte er und reichte mir eine Flasche Wasser.
Ich trank gierig, das Wasser lief mir übers Kinn.
»Ich sitze hier schon eine Weile. Deshalb hab ich auch gesehen, als es losging, und die Feuerwehr angerufen.«
Ich tätschelte seinen Arm und versuchte wieder, mich zu erinnern, woher ich ihn kannte. Sein Gesicht hatte ich
noch nicht gesehen, weder mit noch ohne Maske, da war ich mir sicher, aber seine Bewegungen und seine Figur kamen mir vertraut vor. Er schob sich die Maske ins Haar und nestelte nervös an seinem Umhang.
Er konnte kaum zwanzig sein. Seine Augen waren schmal geschnitten, die Haut hatte einen leichten Curryton, und die Wangenknochen stachen deutlich hervor. Vermutlich war ein Elternteil asiatisch. In seinem schwarzen Haar hatte er weiße Strähnen, und seine schwarz lackierten Fingernägel und die vielen Ohrstecker hatten wahrscheinlich nichts mit seinem Kostüm zu tun, sondern gehörten zur Grundausstattung. Ich reichte ihm die Hand. »Marei. Und duz mich bitte.«
»Leander.«
»Danke fürs Wasser.«
Er nickte. Trotz der Rußspuren in seinem Gesicht konnte ich sehen, wie er rot wurde.
»Meine Güte«, dachte ich, »bist du schön.« Er war mir schon während der Party aufgefallen, weil er schüchtern durch die Räume wanderte, mit niemandem sprach und sich auch nicht an der Orgie beteiligte. Ein paar Mal hatte ich gesehen, wie ihn Frauen und auch Männer angesprochen hatten. Eine versuchte ihn zu küssen, und ein älterer Mann legte ihm die Hand auf den Oberschenkel, aber er hatte sich schnell aus dem Staub gemacht. Irgendwann, als ich im Darkroom war, musste er gegangen sein, und kurz danach brach das Chaos los.
Ich hustete wieder. Meine Narbe unter dem zerrissenen weißen Kleid juckte, und ich rieb vorsichtig darüber.
»Kriegsverletzung?«
»Sozusagen. Es war eine Tätowierung. Mein Mann hat das Gegenstück dazu, es sollte unsere ewige Liebe symbolisieren. Dann hat er mich betrogen, und ich hab’s weglasern lassen.«
Leander schüttelte den Kopf. »Ich meine die andere, am Arm, die genäht ist.«
»So was Ähnliches. Kollateralschaden nach sieben Jahren Ehe.«
Leander stand auf, ging zu einem kleinen Kiosk hinter uns, der gerade öffnete, und kam mit zwei neuen Wasserflaschen zurück. Dankbar nahm ich eine entgegen und trank von neuem. Mein Hals war ein einziger Kratzschwamm.
»Das war eine heiße Party.« Auch seine Stimme klang unglaublich jung.
»Sehr amüsiert hast du dich aber nicht.«
»Es war nicht das, was ich gesucht habe.«
»Und was suchst du?«
»Keine Ahnung.«
Da waren wir schon zwei. Mein Traum war gerade in Flammen aufgegangen. Ich hatte zum ersten Mal seit langer Zeit keine Ahnung, was ich jetzt machen sollte. Leander war da viel praktischer.
»Wir sollten duschen.«
Ich zeigte zu Sophias Wohnung hinauf. »Mein Badezimmer wird gerade renoviert.«
Er stand auf und nahm meine Schatulle. Ich wickelte mich in die Decke und folgte ihm. Die versengten Flügel ließen wir im Papierkorb liegen. Flügel braucht kein Mensch; sie sind sperrig, man bleibt damit im Türrahmen
hängen, und wenn man zufällig in einen Wohnungsbrand gerät, sieht man aus wie eine gerupfte Weihnachtsgans.
»Woher kenne ich dich bloß?«, fragte ich, als wir eine Weile schweigend durch den heller werdenden Park gegangen waren.
»Aus Gemmas Studio.« Er machte eine Geste wie jemand, der sich eine Badekappe überstülpt und einen Reißverschluss über dem Bauch hochzieht. Der Sklave. Jetzt erkannte ich seinen schmalen Körper wieder und auch die schwebende Art, mit der er sich bewegte.
»Na klasse.« Ich sah ihm skeptisch ins Gesicht. »Bist du überhaupt volljährig?«
Er schnaubte: »Gerade so eben.« Und nach einer Weile: »Ist auch egal, ich geh da nicht mehr hin. Ich hab genug von all diesem Zeug.«
Ich nahm seine Hand. Eigentlich war es mütterlich gemeint gewesen, weil er so traurig geklungen hatte. Sie war warm und stark, und ich merkte, dass ich diejenige war, die getröstet wurde.
Wir hätten ein Taxi nehmen können, doch wir gingen lieber zu Fuß. Es kam mir vor, als durchquerten
Weitere Kostenlose Bücher