Voellig durchgeknallt
jedes Mal, wenn er etwas sagt, lacht sie schrill und fasst ihn am Arm. Sie schmeißt sich dermaßen an ihn ran, dass es peinlich ist. Vielleicht schreckt ihn ihr Übereifer ja ab.
»Komisch, auf einmal wieder ein freier Mensch zu sein, was?«, fragt Lenny.
»Werd mich schon wieder dran gewöhnen.«
»Das glaube ich nicht. Wenn man einmal seiner Freiheit b-b-beraubt wurde, ist man nicht mehr derselbe. Die Frage ist: Hast du deine Lektion gelernt?«
Am liebsten würde ich antworten, dass er mich mal kann, aber wegen meiner Mutter halte ich die Klappe, verschränke die Arme, schaue aus dem Fenster und hoffe, er rafft, dass mir nicht nach Plaudern ist. Ich kapier nicht, was er an Mum findet. Sie sieht nicht besonders gut aus und ist ziemlich dick. Und er hört sich an, als hätte er zu viele Bücher gelesen. Er passt nicht zu uns.
Die Siedlung sieht trostloser und runtergekommener aus, als ich sie in Erinnerung habe. Im Rinnstein türmt sich der Müll, die Häuserwände sind vollgeschmiert. Auf den Grünstreifen sind überall Hundehaufen, über die Bürgersteige wehen Papier und Plastiktüten. Die Läden haben Rollgitter. Ich beobachte die vielen kleinen Kinder auf ihren Fahrrädern. Um diese Zeit sollten sie längst zu Hause sein. Die Welt ist ein gefährlicher Ort.
Vor unserem Haus halten wir.
|164| Als ich Omas Plastikblumen auf dem Küchenfensterbrett sehe, wird mir ganz anders. Jeden Winterschlussverkauf schleppt sie neue an und bringt die alten auf den Friedhof. Sie stellt sie auf das Grab von meinem großen Bruder Selby und nimmt die alten, abgeranzten weg. Opas Grab ist ganz in der Nähe und ich habe sie mal gefragt, warum sie ihm nicht auch ein paar Blumen hinstellt. »Weil der alte Drecksack es nicht verdient hat«, hat sie geantwortet.
Ich gehe manchmal zu Selbys Grab, um ein bisschen mit ihm zu quatschen. Eigentlich habe ich ihn gar nicht richtig gekannt. Ich habe ein Foto von uns dreien, da hat mich Selby auf dem Arm, weil ich noch ein Baby bin, und Stephen sitzt daneben. Wir sehen aus wie drei ganz normale Kinder.
Und da heißt es immer, die Kamera lügt nicht.
Ich schnappe mir meinen Rucksack und steige aus, knalle die Autotür zu und verabschiede mich nicht von Lenny.
»Danke, Len.« Mum küsst ihn auf die Wange. »Tut mir leid wegen Chas.«
»Ich komm nicht mit rein«, sagt Lenny zum Glück und erwidert den Kuss nicht.
Diesen Kitsch sehe ich mir nicht an. Ich gehe zur Tür und überlasse die beiden Turteltäubchen sich selber.
Oma steht schon in der Diele und stemmt die Hände in die Hüften.
»Hi, Oma«, begrüße ich sie. »Ist die Feuerwehr schon wieder weg?«
|165| »Was?« Sie macht ein erschrockenes Gesicht.
»Mum hat gesagt, du hast gekocht.«
»Rotzbengel!« Sie umarmt mich. Hinter uns steht Mum. Ob ihr wohl grade einfällt, dass sie mich vielleicht auch hätte umarmen sollen?
»Ich hab Abendbrot gemacht.« Oma lässt mich wieder los. »Es gibt Fischstäbchen und Waffeln.«
»Wir haben schon Pommes gegessen«, sagt Mum.
Omas Mund wird ganz klein und verkniffen. »Ist das der Dank? Da macht man sich den kümmerlichen Rest seines Lebens Sorgen über Sorgen, und dann so was …« Und schon geht das Gemecker und Genörgel wieder los, als wäre ich gar nicht da.
»Lass mich doch einfach in Ruhe«, sagt Mum seufzend.
»Und das muss ich mir von meiner eigenen Tochter anhören! Von meiner Tochter, die ich unter Schmerzen geboren hab.« Sie dreht sich nach mir um. »Fünfzig Stunden haben die Wehen gedauert.«
»Und das lässt du mich jeden Tag spüren«, sagt Mum.
Ich verziehe mich nach oben und spähe auf dem Treppenabsatz unter der Gardine nach draußen. Lenny ist immer noch da und sitzt in seinem Wagen. Seine langen weißen Finger liegen auf dem Lenkrad. Man kann sich gut vorstellen, wie sie jemandem die Luft abschnüren. Wie diese Hände den Jungen unter Wasser drücken, fester zupacken, ihn noch tiefer drücken … Als Lenny plötzlich die Hand aus dem Fenster streckt und mir zuwinkt, fahre ich zusammen. Ich lasse die Gardine blitzartig fallen, als wäre er ein Heckenschütze, und trete vom Fenster zurück, als |166| der Wagen anfährt. Dann schaue ich ihm nach, bis er außer Sichtweite ist.
Ich gehe in mein Zimmer.
Oma hat geputzt und aufgeräumt! Meine ganzen Klamotten sind gewaschen und liegen gebügelt im Schrank. Sie hat das schon halb abgefallene Poster von Manchester United wieder angepinnt, den Teppich gesaugt und meinen ganzen Kram ins Regal geräumt. Das
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