Vogelfaenger
Ich beobachtete Tobias und die Tanzenden. War der, der in den Keller gekommen war, noch da? Falls das der Fall war, ließ er sich nichts anmerken. Aber das war keine Beruhigung und kein Trost. Es war auch kein Trost, dass Tobias mir jetzt schon wieder einen ersten Eigentlich-will-ich-ja-gar-nicht-mit-dir-streiten-Blick zuwarf. Jetzt drehte ich den Kopf von ihm weg und angelte mir eine weitere Handvoll von den gelben Würmern. Wenn ich am nächsten Tag selbst aussähe wie ein eins sechzig großer, menschlicher Erdnussflip, wäre mir das auch egal. Ich war dreifach gekränkt und sauer auf mich selbst.
Doch das Schlimmste sollte erst kommen. Alswir gegen Mitternacht in einem Grüppchen Jugendlicher auf der Landstraße zurück in den Ort fahren wollten, merkte ich, dass Tobias enorme Probleme hatte, sein Fahrradschloss zu öffnen. Ich kümmerte mich aber nicht darum. Wenn er eingeschnappt war, war ich es eben auch. Ihn jetzt anzusprechen hatte sowieso keinen Sinn.
Wir setzten uns in Bewegung. Er bildete das Schlusslicht der Gruppe, schlingerte in unsicheren Schlangenlinien über die Straße und war bald ziemlich abgeschlagen. Die Nacht war klar und kühl und der Geruch von Gülle, der von den Feldern aufstieg, unerträglich.
Die Mädchen vor mir unterhielten sich, das Rad des Jungen hinter mir quietschte bei jedem Tritt in die Pedale. Daher hörte ich das Scheppern nur ganz leise. Ich war auch müde, war in Gedanken schon im Bett und nicht mehr beim Straßenverkehr. Wahrscheinlich hätte ich gar nicht auf das Geräusch reagiert, wenn der Junge mit dem Quietscherad nicht gerufen hätte: »Ey, Leute, ich glaub, der Letzte ist vom Rad gefallen!«
Ich bremste ab, drehte mich um. »Was ist mit ihm?«
»Na was schon? Der schläft seinen Rausch aus!«
Es gab Gelächter. Sie fuhren weiter. Einer sang einen Werbesong für eine Schnapssorte.
Nur ich, die Freundin, stoppte mein Fahrrad, drehte mich umständlich um und rief Tobias’ Namen. Er gab mir keine Antwort. Natürlich nicht. Das hatte er den ganzen Abend nicht getan.
Die Stimmen der anderen entfernten sich.
»Wartet!«, rief ich.
»Du kannst ja nach ihm gucken«, antwortete Quietscherad über die Schulter hinweg. »Aber eigentlich ist er alt genug, um selbst auf sich aufzupassen.« Für ihn war die Sache erledigt.
»Tobias!«, rief ich noch einmal in die Nacht und überlegte: Er fuhr ein Mountainbike, sauste gern kreuz und quer durch den Wald. Betrunken war er, ja, aber was sollte bei einem Fahrradsturz schon passieren? Und wenn er wirklich ein Problem hätte, würde er mir doch antworten, oder nicht? Sicher war er nur immer noch beleidigt.
Ich sah, wie sich die roten Rücklichter schwankend entfernten. Wenn ich den Anschluss an die Gruppe halten wollte, musste ich jetzt schon einen Spurt hinlegen.
Ich entschied mich dafür und sauste den anderen hinterher.
Zu Hause traf ich auf Malte, der einen Spätfilm guckte. Noch immer unschlüssig setzte ich mich neben ihn aufs Sofa, starrte einen Moment auf den Bildschirm, ohne wirklich etwas zu sehen, grübelte und schwieg, bis mein Bruder sagte: »Wo is’ ’nn dein Lover?«
Ich erzählte ihm vom verunglückten Abend. Malte sah mich einen Moment nachdenklich an, dann griff er sich den Wagenschlüssel meines Vaters. »Komm, wir fahren die Strecke ab. Sicherheitshalber.«
Erst da befiel mich die Sorge, dass Tobias wirklichetwas passiert sein könnte. Plötzlich in Eile liefen wir durchs Treppenhaus und zum Auto. Als wir die Stelle erreichten, an der Tobias eine gute Stunde mit einem Schädelbruch neben seinem Fahrrad im Straßengraben gelegen hatte, hatten bereits andere Leute den Krankenwagen gerufen.
Dadurch, dass ich in den Augen der Leute meinen Freund im Stich gelassen hatte, erlangte ich sehr schnell traurige Berühmtheit. Schon am nächsten Tag prangte mein pausbäckiges Gesicht auf der Titelseite der Gratiszeitung.
Ließ sie ihren Freund halb tot im Straßengraben liegen?
stand darunter. Man nannte mich Säuferin, Schlampe, Sexbombe. Letzteres nur, weil ich in Unterwäsche in den See gesprungen war. Von dem Jungen, der vor mir ebenfalls in seiner Unterhose baden gegangen war, schrieben sie kein Wort. Natürlich auch nichts davon, welchen üblen Streich man mir im Keller gespielt hatte. Nein, dieses Detail konnte ja auch niemand kennen, das hatte ich ja niemandem erzählt. Mich hatte aber auch keiner gefragt. Kein Reporter kam zu mir; sie kamen zu Tobias’ Eltern, seinen Mitschülern, dem Gastgeber Dressman.
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