Vogelfaenger
Vorzeichen.«
»Wofür denn?«, frage ich und ziehe die Stirn kraus. Ich hätte nicht gedacht, dass meine Freundin so abergläubisch, ängstlich und grüblerisch ist. »Das sind doch Nichtigkeiten, Zufälle.«
Sie ringt die Hände. »Ja. Ich hoff’s. Wahrscheinlich ist es so.«
»Aber sicher!« Ich schließe die Augen. Bevor ich in den Schlaf gleite, höre ich sie fragen: »Wie hat das Handy geklingelt? Ganz normal?«
Ich brumme eine Zustimmung. Alles andere würde sie nur noch mehr verunsichern.
19
Ich erwache von aufgeregten Stimmen. Einen Moment lang kann ich sie nicht einordnen, so tief habe ich geschlafen. Ein Blick auf mein Handy zeigt mir: Es ist auch schon Viertel nach zwei.
»Marius ist hier auf dem Platz in einen Haufen getreten!«
»Was können wir dafür? Das war nicht Rocky. Rocky führen wir immer im Wald Gassi. Und für die Platzhygiene sind wir nicht zuständig.«
»Andere Hunde gibt es auf dem Platz aber nicht, Mädchen! Also wirklich, das ist doch unverschämt: Wir schenken euch Salbe und ihr nehmt überhaupt keine Rücksicht auf uns!«
»Stimmt doch gar nicht. Es kommen ja auch oft Spaziergänger mit Hunden hier vorbei. Diese Leute passen nicht auf. Unser Rocky ist gut erzogen und stubenrein.«
»Ich weiß nichts von Spaziergängern! Der einzige Typ, den wir hier haben rumschleichen sehen, hatte keinen Hund und sah auch nicht wie ein Ausflügler aus«, schimpft die Nachbarin und stapft davon. Wahrscheinlich glaubt sie Idas Lügen nicht. Von deren Kühnheit aber bin ich begeistert. So sehr, dass ich fast verräterisch kichern muss. Ich kann’s gerade noch zurückhalten, indem ich Rocky an mich drücke und ihm ins Ohr flüstere: »Du frecher kleiner Scheißer, du!«
»Was für ein Typ?«, ruft Ida der Nachbarin nach. »Hallo, jetzt warten Sie doch, erzählen Sie mal!« Siebekommt keine Antwort. Marius’ Mama ist definitiv beleidigt.
Ich will mich mühsam mit meinem zerstochenen Körper aus dem Zelt wagen, aber ich sehe, wie Ida jetzt nachdenklich die Stirn runzelt und ein Notizbüchlein aufschlägt, das auf ihrem Schoß liegt. Vielleicht sollte ich sie nicht stören und mich selbst noch ein bisschen ausruhen.
Also döse ich vor mich hin, denke an meine verletzten Freunde Jan und Tobias und beobachte aus halb geschlossenen Augen meine jetzt gar nicht mehr selbstbewusst, sondern eher verstört wirkende Ida, die schreibt und schreibt und ab und zu kleine Seufzer ausstößt, um dann, so als sei sie ertappt worden, rasch den Kopf zu heben und sich horchend umzusehen, bevor sie wieder in sich zusammensinkt.
Was macht sie da? Schreibt sie Tagebuch? Einen Reisebericht? Gedichte?
Je länger ich sie beobachte, desto neugieriger werde ich auf das, was sie dort so beschäftigt. Ich wüsste gern, was sie wohl in verschlüsselten Worten von sich preisgibt, was wirklich hinter ihrer makellos modischen Nettes-Mädchen-Fassade steckt.
Als sie zehn Minuten später aufsteht und das Zelt verlässt, stehe ich ebenfalls auf. Das kleine schwarze Notizbüchlein liegt auf ihrer Reisetasche. Was ich jetzt tue, macht man nicht, aber da ich nicht »man« bin, mache ich es eben doch, was nur wieder zeigt, was für einen schlechten Charakter ich habe. Nachspionieren, pfui! Vertrauen brechen, bah! Wie soll ich mich überhaupt noch im Spiegel angucken?
Während ich das denke – meine Finger schon auf Idas Büchlein –, fällt mir Tobias’ Oma ein. Ich wollte ihn im Krankenhaus besuchen, doch die Oma ließ mich nicht in sein Zimmer. Ob ich mich nicht schäme? Ob ich mich morgens noch waschen könnte, ohne Ekel zu empfinden? So enttäuscht sei sie von mir, unendlich enttäuscht, durch nichts, keine noch so oft wiederholte Entschuldigung, könne ich das wiedergutmachen. Und die Lehrer! Ich sehe die ganzen besserwisserischen, besserlebenden, besserfühlenden Lehrer vor mir, wie sie die Köpfe schütteln über das Schlechteste aller Mädchen, das seinen schwer verletzten Freund im Straßengraben liegen gelassen hat. Wie einen überfahrenen Köter, hat die Oma gesagt und mich asozial genannt, diese widerliche, aus Schleim gemeißelte Oma, grünes Kostüm, graue Haare, Pagenschnitt, eine Frisur schon zum ewigen Kopfschütteln geschnitten, schüttel-schüttel, sooo enttäuscht. Wie oft ich dieses Wort gehört habe! Wie viele Menschen ich an einem einzigen Abend enttäuscht habe. Hätten sie gesagt, ich hätte sie beleidigt, verletzt oder in den Allerwertesten getreten, hätte ich damit leben können, aber diese
Weitere Kostenlose Bücher