Vogelfaenger
muss es sein – nicht verschwindet. Wir sehen uns an, kommen uns näher. Gesicht an Gesicht, Nasenspitzen, die aneinanderstoßen, leises Schmunzeln, Streicheln, Reiben, dann seine Lippen, gleich werden wir uns küssen, gleich, nein, da ist wieder die Wespe. »Moment«, sage ich,drehe den Kopf weg. Er pflückt mir eine Klette aus dem Haar, streichelt meine Wange, wartet. »Keine Angst«, sagt er, und: »Die Wespe ist weg.« Ich weiß nicht, warum ich noch zögere, aber ich tu’s und wende mich ihm nur sehr langsam wieder zu. Dabei denke ich … an Tobias.
Muss ich denn ausgerechnet jetzt an Tobias denken?! Ich will diesen Blödmann vergessen, will mich ausprobieren, den Moment genießen. So ganz klappt’s aber nicht: Die Baumrinde piekst in meinem Rücken, die nervige Wespe ist immer noch da und Tobias ist nicht nur in meinem Kopf, ich habe das Gefühl, er stünde auch irgendwo, da, gleich dort drüben, hinter dem nächsten Baum, an dem gerade die Zweige so geknackt haben, da glaube ich ihn jetzt wirklich zu sehen. Ja, wer sollte es sonst sein? Mit halb geschlossenen Augen glaube ich zu sehen, wie Tobias hinter dem Baum hervorkommt, mich traurig ansieht und fragt: »Also ist es endgültig vorbei?« Dann, ich blinzele ins Gegenlicht – es kann doch nicht wirklich sein, dass da einer ist, oder? –, hebt er den Arm und winkt.
17
Der Vogelfänger wird nur gesehen, wenn er auch gesehen werden will. Er hat ein Händchen für Tarnung, kann in der Natur aufgehen und sie für sich nutzen.
Seine größte Gabe aber ist die Gelassenheit.
Zuerst hat er es geschafft, sich zu beherrschen, als die Gans so nah stand und er ihre in der Luft flirrende Angst förmlich auf seiner eigenen Haut zu spüren glaubte. Wie gern hätte er sie da schon gepackt und aus dem Weg geschafft!
Dann hat er lange zugesehen, wie sein Täubchen mit ihr und den fremden Jungs frühstückte, als wären die jetzt ihre Lieben, ihre Familie, ihr Kreis von Menschen, aus dem er für immer ausgeschlossen war. Der Hass brannte bitter in seiner Brust, er litt Qualen, bis sich gerade eben unverhofft das Blatt gewendet hat.
Auf einmal bietet sich ihm eine wunderbare Zufallsgelegenheit, der Gans und einem seiner Konkurrenten zu schaden. Er muss nur einen Stein werfen. Den Rest erledigen andere.
18
»Was war das?« Ich zucke zusammen, blicke über Jans Schulter.
»Was?«
»Das Geräusch. Als wäre etwas heruntergefallen.«
Er prustet los. »Ein Handy!«
»Blödmann, da war wirklich …«
Im nächsten Moment vergeht uns das Lachen.
»Scheiße, was ist das denn?«, ruft er und reißt schützend die Arme vors Gesicht.
»Wespen! Alles ist voller Wespen!«, rufe ich, plötzlich in Panik.
Schon sticht mich eine in den Arm. Noch eine. Dazu das unheilvolle Schwirren in der Luft, vielstimmig, geballt, böse. Der ganze Schwarm greift an.
»Weg hier!« Mit Riesenschritten jage ich zum Ufer hinunter. Zweige, Dornen, Blätter schlagen mein Gesicht. Die Wespen folgen. Eine wilde Wolke. Nicht abzuschütteln. Nicht bereit, aufzugeben und nachzulassen. Eine Wespe fliegt in mein Ohr und surrt darin so laut wie ein Flugzeugtriebwerk, es scheint, sie will sich in meinen Gehörgang bohren, in mein Hirn eindringen. Ich schreie und schlage auf mein Ohr, meine Arme, meine Hosenbeine. Die Biester sind überall, ich kann ihnen nicht entkommen, denn jetzt versperrt mir noch ein umgekippter Baum den Weg.
»Hiiilfe!« Jan wird ebenfalls verfolgt, obwohl er in die andere Richtung flieht. Mein Ziel ist, den Fluss zu erreichen. Frisch und blaugrün liegt er da, ein sanft bewegter, stiller Retter. Ins Wasser! Schnell! Ohne auf meine Kleidung zu achten, laufe ich hinein und lasse mich auf den Bauch fallen. Abtauchen!
Das Wasser lindert die Schmerzen, umhüllt mich wie eine schützende Bettdecke aus glatter, kühler Seide und erlöst mich von den Wespen.
Das Surren aber höre ich weiter. Sind meine Verfolger noch da oder surren sie bereits in meinem Kopf? Lieber nicht so schnell wieder auftauchen!
Ich zwinge mich auf den flachen Grund hinab,kralle meine Hände in den weichen Schlamm, warte. Ein scharfkantiger Stein oder eine Scherbe ragt aus dem Schlick, ein Stück Plastik trudelt vorbei.
Dann trudeln meine Beine nach oben und die Brust wird mir eng. Im ganzen Körper spüre ich ein unangenehmes Ziehen. Ich muss Atem holen, strecke den Kopf aus dem Wasser, schnappe nach Luft und tauche sofort wieder ab.
Erst als ich zum dritten Mal hochkomme, weiß ich sicher, dass ich meine
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