Vogelfaenger
kollektive Enttäuschung war zum Kotzen.
Tobias’ Eltern haben es nicht bei der Enttäuschung belassen, sondern den Artikel mit meinem Foto in der Zeitung lanciert und meinen Eltern einen Anwalt vorbeigeschickt, was zwar keine gerichtlichen Folgen hatte, meiner Mutter aber einen Weinkrampf und meinem Vater den höchsten Blutdruckseines Lebens beschert hat. Schrecklich habe ich mich da gefühlt. Meine Eltern haben zwar nicht gesagt, dass ich auch sie enttäuscht hätte, aber ich war schon so weit, es mir selbst einzureden. Krank habe ich sie gemacht, zumindest für einen Abend.
Lese ich nun in Idas Notizbuch? Ich halte nach ihr Ausschau, und da sie noch nicht in Sicht ist, entscheide ich: Ich blättere es nur einmal kurz durch. Das ist dann nur ein halber Vertrauensbruch.
Ob Idas Einträge Gedichte oder nur Gedankensplitter sind, könnte vielleicht meine Deutschlehrerin beurteilen, ich weiß nur: Die Texte sind extrem schräg und verstörend. Sie haben auch gar nichts mit unserem Leben zu tun, sie sind irgendwie ein bisschen irre. Da lernt ein Müllcontainer voller toter Vögel fliegen und terrorisiert die Stadt; ein Mädchen begräbt einen abgeschnittenen Haarzopf wie ein totes Tier im Garten, doch dann wird der Zopf lebendig, windet sich als haarige Schlange aus der Erde und kriecht nachts unter ihre Bettdecke. Ein kleiner Junge isst mit einem Löffel aus Weingummi immer wieder das gleiche verdorbene Mittagessen, ein anderer oder auch der gleiche spukt als grausames Gespenst in weißer Kochkleidung durch die Häuser und steckt den Schlafenden verfaulte Hühnereier in die offenen Münder. In einem anderen Text wird ein Liebespaar auf einem Hochsitz vom Blitz erschlagen, weil das Mädchen eine Hexe ist und den Zorn der Welt auf sich geladen hat. Eifersüchtige Ehemänner bringen ihre Frauen um und der leibhaftige Teufel kommt auch wieder vor, ergeht bevorzugt ins Bordell, manchmal backt er auch vergiftete Törtchen, die wie Brüste aussehen, und verteilt sie an kleine Kinder.
Ich schließe das Buch gerade noch rechtzeitig, bevor ich Ida aus dem Waschhaus kommen sehe. Sie trägt ihre Kulturtasche unterm Arm und den offenbar vollen Wassertopf in den Händen. Ihre roten Haare hat sie hochgesteckt, ihre Augen auf den Weg geheftet. Bemüht, nichts zu verschütten, nähert sie sich in Trippelschritten und trägt den Topf ein gehöriges Stück von ihrem violetten Top mit dem silbrig glitzernden Schmetterling entfernt. Sie sieht ganz normal aus, jedenfalls so, wie ich sie bisher zu kennen glaubte.
»Ah, du bist wach! Geht’s dir besser?« Sie setzt den Topf auf dem Gaskocher ab, greift nach der Teedose.
»Ja, danke.« Ich versuche, möglichst Normalität vorzutäuschen, strecke mich, gähne überdeutlich und sage ganz harmlos und fröhlich: »So gut, dass ich einen großen Eisbecher vertragen könnte.«
Ida lacht, nett, mit ebenmäßigen Zähnen, leichtem Lippenstift und harmlosen Haarsträhnchen, die sich aus den Spangen gelöst haben. »Da bin ich ja erleichtert. Jan geht’s auch besser. Ich habe gerade Fabi und Hannes getroffen. Er ist schon aus dem Krankenhaus entlassen, wird aber zwei, drei Tage nicht zum Campingplatz kommen. Seine Eltern haben ihn abgeholt, sie kümmern sich um ihn. Du siehst ihn also nicht so bald wieder.«
Ich seufze laut. »Erst geht Albert, dann Jan …«
»Stehst du echt auf den?«
»Ach, weiß nicht. Er ist eben nett.« Ich möchte nicht auch noch über meine eigenen verworrenen Gefühlswelten nachdenken und wechsele das Thema. »Wie ist’s jetzt mit ’nem Eis?«
»Wir haben noch Kekse und Schokolade.«
»Nein, ich will Eis. Komm, ich lade dich in den Ort ein, weil du mein Rocky-Schätzchen vorhin so gut verteidigt hast. Ich hab’s im Halbschlaf mitbekommen.«
Sie wirft einen abschätzigen Blick zum Wohnmobil rüber. »Die blöde Schnepfe! Soll sich nicht so aufregen.«
Ich äffe leise die Stimme der Nachbarin nach: »Oh, Marius-Schätzchen, was hast du denn da in der Hand, ein süßes kleines Hundewürstchen?«
»Du bist ekelig, Nele.«
»Nein, Marius, das steckt man nicht in den Mund, das ist bah.«
»Hör auf!« Ida wird rot vor Lachen, steht dann auf und stopft ihr Handy und ihr Notizbuch in ihre Handtasche. Wenn ich nicht wüsste, was drinsteht, würde ich denken, sie sei ein absolut unbelastetes Mädchen in Urlaubslaune. Ich nehme mir vor, einfach zu vergessen, was ich gelesen habe, stecke energisch mein Portemonnaie in die Jeans, greife mir Rockys Leine, schließe den
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