Vogelfaenger
einladend aus, in anderer Situation hätte ich mir eins genommen. »Was haben die denn zu bedeuten?«
Sie zögert merklich. »Nichts.«
Mein Verständnis verfliegt im Nu. »Würdest du mich denn aufklären, wenn’s für Rocky wichtig wäre? Oder würdest du dann auch sagen: Ooch, nichts. Ich weiß jetzt zwar, wo dein Hund ist, aber darüber kann ich leider nicht sprechen.«
»Sei nicht albern, Nele!«, faucht sie und stürzt nach draußen.
Ich bleibe noch einen Moment stehen, schaue mich angestrengt um. Was versteht sie, was ich nicht verstehe? Hat es mit den Süßigkeiten zu tun? Sie passen nicht ins Gesamtbild, das fällt selbst mir auf. Warum kauft Lars Weingummis, wenn er sonst alles selbst backt? Unter der Schale liegt ein verschlossener Briefumschlag.
Protokoll des Vorfalls
vo-
lese ich, der Rest ist unter dem Porzellan verborgen.
Ich strecke die Hand aus.
»Stopp, nichts anfassen! Das ist gegen die Abmachung, Mädchen!« Rotter ergreift meinen Arm und schiebt mich nach draußen. »Rumschnüffeln ist nicht und ich kann hier auch nicht den Tag der offenen Tür machen.«
Zu protestieren hat keinen Sinn. Mit hängenden Schultern verlasse ich die Blockhütte. Ich bin keinen Schritt weitergekommen. Wo soll ich jetzt noch nachschauen? Die Suche zusammen mit Herrn Rotter erschöpft sich in einem letzten, schleppenden Spaziergang über den Campingplatz und endet ziemlich bald an unseren Zelten, wo er sich in Fabis Liegestuhl plumpsen lässt und sagt: »Jetzt tät ’ne Tasse Kaffee gut.«
»Soll ich Ihnen eine kochen?«, fragt Ida anstellig, was mich noch mehr verärgert. Statt mit mir weiter alles Menschenmögliche zu tun, um Rocky zu retten, will sie diesem Mann, der sich die ganze Zeit einen Dreck um den Campingplatz und seine Gäste gekümmert hat, Kaffee servieren. Wahrscheinlich trinkt sie, aus Höflichkeit oder um die Fassade zu wahren, sogar noch eine Tasse mit, obwohl sie ziemlich krank aussieht.
Herr Rotter ist von der Aussicht auf Kaffee natürlich begeistert, vor allem, nachdem ich bissig kommentiert habe, dass Ida die eifrige und wohlerzogene Tochter des Starkochs Markus von Bärlauch ist und somit für diese Aufgabe wie geschaffen.Ihn stört der Sarkasmus in meinen Worten nicht, Ida schon.
Sie schweigt aber. Beharrlich die Lippen aufeinanderpressend und mit tränenfeuchten Augen vor sich hin starrend, bereitet sie den Kaffee zu, räumt den Tisch ab, deckt Kekse auf und verkündet dann, kühl und ohne mich anzusehen, sie wolle nun mit dem Aufräumen und Packen beginnen.
»Nur zu, nur zu«, sagt Herr Rotter, »ich bleib dann hier sitzen. Wenn ich jetzt noch ’ne Zeitung hätte …«
»Damit können wir leider nicht dienen«, zische ich und ernte ein belustigtes Schmunzeln von ihm. Dann wendet er sich Ida zu und sagt: »Ganz schön krabetzig, deine Freundin, und ’n bisschen überdreht, kann das sein?«
Sie ist glücklicherweise so klug, dazu nichts zu sagen. Ich überlege erst, mich mit ihm anzulegen, aber ich habe Wichtigeres zu tun. Ich muss vor allem etwas unternehmen, um meinen Hund wiederzubekommen. Nur was?
Rotter lobt den Kaffee, Ida packt die Taschen. Der Campingplatz ist menschenleer. Die dicken Frauen sind noch nicht zurück, der Angler ist ebenfalls unterwegs und selbst die Gänse lassen sich nicht blicken. Ich laufe zum Ufer hinunter – keine Ahnung, ob es die richtige Richtung ist. Kein Lüftchen geht, der Fluss fließt langsam dahin, steht fast. In ihm spiegeln sich die weißen Wolken und ein hoch oben am Himmel kreisender Bussard. Das Wasser duftet angenehm frisch, lädt zum Baden einund verströmt doch totale Gleichgültigkeit. Dieser Fluss wird genauso wie der blöde Campingplatz auch nächste Woche und nächstes Jahr noch hier sein, während Rocky dann wahrscheinlich längst verwest ist. Womöglich werde ich ihn nie wiedersehen. Rocky ist einfach weg, gestohlen und weg, wie die Katze meiner Oma. Ich spüre zum ersten Mal, wie mir Tränen über die Backen laufen. Es ist ein lautloses Weinen, eins der völligen Hilflosigkeit. Jetzt weiß ich, wie Oma sich gefühlt haben muss, und zum ersten Mal seit langer Zeit wünschte ich, sie wäre da, würde mich in den Arm nehmen und sagen: »Nelchen, ich glaub, ich muss dich mal ein bisschen brüten.«
Eine ganze Weile stehe ich so am Ufer, weinend, leidend und unentschlossen, was ich weiter tun soll. Dann knirscht der Kies hinter mir. Ich fahre herum.
»Ich bin’s nur.« Ida steht da, die Schultern hochgezogen, die Hände in den
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