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Vogelfrei

Titel: Vogelfrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianne Lee
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etwas habe ich noch nie gesehen. Und so viele. Was ist mit dir passiert?«
    Wie sollte er ihr erklären, dass er vor zweihundertsechsundachtzig Jahren fast zu Tode gepeitscht worden war? Stöhnend setzte er sich auf. »Ein Motorradunfall?«
    »Wann soll der denn gewesen sein? Letzte Woche waren diese Narben noch nicht da. Du hast während des Unterrichts ein loses Achseltop getragen, erinnerst du dich? Und du hast es ausgezogen, weil der Stoff riss. Da war dein Rücken noch glatt. Dylan, sag mir die Wahrheit. Diese Narben stammen nicht von irgendwelchen Spielchen, die außer Kontrolle geraten sind. Das war eine regelrechte Folter. Das ... das gibt es eigentlich gar nicht.«
    Dylan seufzte. »Ich kann es dir nicht erklären. Wirklich nicht.«
    »Dyl...«
    »Bitte, Cody, hör auf. Ich kann es dir nicht sagen. Und sprich mit niemandem darüber. Bitte.«
    Ihre Augen schimmerten feucht, als sie flüsterte: »Natürlich nicht. Das bleibt unter uns. Es ist nur so ... es tut mir so Leid.«
    Er drückte ihre Hand, und sie küsste ihn auf die Stirn, ehe sie das Zimmer verließ.
    Als er am nächsten Morgen erwachte, waren die Schmerzen wieder stärker geworden, der Katheter drückte, und seine Laune besserte sich auch nicht, als der Chirurg zur Visite kam. Der dünne, kahlköpfige Mann in dem weißen Kittel kam in sein Zimmer geschlendert und begrüßte ihn in einem leicht herablassenden Tonfall: »Guten Morgen, Mr. Matheson. Ich bin Dr. French. Wie ich hörte, sind Sie im Umgang mit scharfen Gegenständen etwas unvorsichtig gewesen.« Er klang genau wie die hochnäsigen Engländer, über die sich Seamus bei jeder Gelegenheit lustig gemacht hatte.
    Seamus. Dylan wurde das Herz schwer, als ihm einfiel, dass sein Freund ja schon lange, lange tot war. Dr. French schien zu der Sorte von Ärzten zu gehören, die ständig dumme Witzchen machten. Trotzdem blickte er nicht von seinem Klemmbrett auf, um zu sehen, wie Dylan darauf reagierte.
    Der Typ war noch keine halbe Minute im Zimmer, und schon ging er Dylan gewaltig auf die Nerven.
    »Hey.« Suchend blickte er sich im Raum um. »Wo sind meine Sachen geblieben?« Er wusste, dass er Brigid in der Hand gehalten hatte, als er in dieses Jahrhundert zurückgeschickt worden war. Sein zerfetztes, blutiges Hemd war vermutlich im Müll gelandet, sein Schwert auf dem Schlachtfeld zurückgeblieben, aber wehe, irgendjemand in diesem Krankenhaus hatte sich an seinen Dolchen vergriffen.
    »Was für Sachen?«
    »Ich hatte zwei Dol... Messer bei mir. Wo sind die? Und eine Schwertscheide an einem Wehrgehänge.«
    Der Chirurg zeigte nicht das geringste Interesse daran, ihm zu helfen. »Fragen Sie da doch am besten mal die Schwester.«
    »Dann rufen Sie sie.«
    »Sie können ...«
    »Jetzt sofort!«
    Verärgert wandte sich der Arzt vom Bett ab und deutete auf den schmalen Schrank in der Ecke. »Wahrscheinlich ist alles da drin.«
    »Dann sehen Sie nach!«
    Seufzend kam Dr. French der Aufforderung nach. Dylans Wehrgehänge lehnte an der Rückwand des Schrankes, im Regalfach lagen Brigid, sein sgian dubh, seine Schuhe, Wollstrümpfe und seine Gamaschen. Alles, was er während der Schlacht getragen hatte, war da, außer seinem Hemd. »Haben Sie diese Sachen gesucht?«
    Dylan ließ den Kopf auf das Kissen sinken. »Yeah.«
    Dr. French drehte sich wieder zu ihm um. »So, dieses Problem hätten wir glücklich gelöst.«
    »Wann komme ich hier raus?«, fuhr Dylan ihn an.
    Der Arzt lachte. »Sobald Sie wieder gesund sind.« Es war klar, dass French ihn erst dann entlassen wollte, wenn er es für richtig hielt. »Wie wär 's, wenn Sie klein anfangen und erst einmal versuchen, aus dem Bett aufzustehen?«
    Dylan warf ihm einen bösen Blick zu. »Wie wär's, wenn Sie mir erst mal diesen widerlichen Katheter aus dem Schwanz ziehen?«
    Jetzt wirkte Dr. French sichtlich verärgert, doch genau das hatte Dylan mit seiner Bemerkung bezweckt. French erwiderte kurz: »Wir entfernen ihn so bald wie möglich. Jetzt werden wir erst einmal...«
    »Mir das Ding abnehmen, und zwar ein bisschen dalli.«
    French gab auf. »Na schön. Ich schicke Ihnen gleich eine Schwester.« Wortlos verließ er den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.
    »Vielen Dank«, rief Dylan ihm nach.
    Sobald der Katheter entfernt worden war, fühlte Dylan sich sofort weniger hilflos, weniger stark an das Krankenhaus gefesselt; seine Stimmung hob sich beträchtlich. Er ging ins Bad und wieder zurück, ohne sich einmal abzustützen, dann setzte er sich

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