Vogelfrei
in ihr Gästezimmer - sein ehemaliges Kinderzimmer - zu ziehen. Sie holte ihn vom Krankenhaus ab, brachte ihn nach Hause und riet ihm, sofort nach oben zu gehen und sich hinzulegen. Er gehorchte, setzte sich auf das Gästebett und sah sich in dem Raum um, der lange Jahre sein Zuhause gewesen war.
Mom hatte das Zimmer neu eingerichtet, nachdem er mit zweiundzwanzig ausgezogen war, um am College zu studieren. Abgesehen von der vertrauten Aussicht aus dem Fenster, mit der er groß geworden war, unterschied sich der Raum jetzt in keiner Weise von einem unpersönlichen Standardgästezimmer. Ein Einzelbett stand darin, zwei Messinglampen aus den achtziger Jahren und eine Eichenkommode, die als Kofferablage diente. Im Schrank waren große Kartons mit Weihnachtsdekoration untergebracht. Es roch nach staubiger Pappe und alten Tannenzapfen. Dylan drückte eine Hand gegen seinen Verband. Er hatte immer noch das unangenehme Gefühl, seine Eingeweide würden ihm aus dem Leib quellen, wenn er die Hand wegnahm.
Er war wieder zu Hause, trotzdem fühlte er sich irgendwie verloren. Fünf Tage lang hatte er es vermieden, an Cait und an all die anderen Menschen zu denken, die ihm im Laufe der letzten beiden Jahre ans Herz gewachsen waren. Seine jüngste Vergangenheit kam ihm fast wie ein Traum vor, wären da nicht die wulstigen Narben auf seinem Rücken, die dünne weiße Linie an seinem linken Arm, die Kerbe in seinem Ohr und die dicke weiße Narbe an seiner linken Wade gewesen ...
Er schob Brigid unter sein Kopfkissen, legte sich aufs Bett und schloss die Augen, in der Hoffnung, die Welt um ihn herum eine Weile vergessen zu können.
Nach einer Weile spürte er, wie er sich zum ersten Mal seit seiner Rückkehr vollkommen entspannte. In Gedanken machte er eine Bestandsaufnahme seines Körpers: welche Teile gebrochen waren, welche fehlten, welche beschädigt worden und welche noch intakt und vielleicht stärker und widerstandsfähiger als zuvor waren. Allmählich ließen die schlimmsten Schmerzen nach, und die Welt wurde still und dunkel um ihn, aber er wusste, dass er nicht schlief. Seine Augen waren nur halb geschlossen, trotzdem konnte er nichts sehen. Sein Herz setzte eine Sekunde lang aus, er sprang vom Bett. Alles um ihn herum war grau, wie dichter Nebel bei Nacht. Er hielt sich eine Hand vor die Augen, konnte sie jedoch nicht sehen, konnte sie noch nicht einmal fühlen.
Verstört spähte er in den Nebel. »Wo bin ich?«, fragte er ins Nichts, erhielt aber keine Antwort. »Sinann?« Nichts.
Dann hörte er Geflüster. Stimmengewirr, gedämpft und in einer seltsamen Sprache. Überall um ihn herum. »Wer seid ihr?« Wieder keine Antwort, nur unverständliches Gewisper.
Und dann übertönte eine Stimme auf Gälisch alle anderen; eine Stimme, die ihm tief ins Herz schnitt. Cait. Sie betete; flehte Gott an, seine schützende Hand über ihren Geliebten zu halten. »Cait!«, rief er laut, aber sie schien ihn nicht zu hören und fuhr fort zu beten, bis ihre Stimme verklang.
Im nächsten Moment spürte Dylan auch seinen Körper wieder, die Schmerzen kehrten zurück, und er stellte fest, dass er noch immer auf dem Bett lag. Er setzte sich auf und flüsterte Caits Namen, obwohl er wusste, dass ihm niemand antworten würde; schließlich ließ er sich entmutigt wieder in die Kissen sinken.
Nach einer Weile wurde er zum Lunch gerufen.
Nach dem Essen setzte ihn seine Mutter vor den Fernseher, wo er sich die Zeit damit vertrieb, durch sämtliche Kanäle zu zappen; zwischendurch nickte er vor lauter Langeweile immer wieder ein. Dann nahm er sich ein Buch aus dem Regal und blätterte lustlos darin herum. Im Laufe des Nachmittags spürte er, wie seine innere Anspannung stieg; ein Gefühl, das schon früher immer um diese Zeit herum von ihm Besitz ergriffen hatte. Bald musste sein Vater nach Hause kommen.
Doch der Zeitpunkt, an dem er üblicherweise zur Tür hereinkam, verstrich, ohne dass etwas geschah. Auch das war nicht ungewöhnlich. Wahrscheinlich war sein Vater unterwegs irgendwo auf einen Drink eingekehrt. In gewisser Hinsicht war Dylan erleichtert, es bedeutete, dass er an diesem Abend vielleicht um eine Auseinandersetzung mit dem alten Mann herumkam.
Kenneth Matheson kam nach Hause, als Dylan schon längst zu Abend gegessen und in seinem Zimmer verschwunden war. Vermutlich war seiner Mutter inzwischen speiübel, weil sie mit dem Essen auf ihren Mann gewartet hatte. Dylan hörte ihn unten ärgerlich herumbrüllen, vermutlich war er
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