Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vogelfrei

Titel: Vogelfrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianne Lee
Vom Netzwerk:
wieder sturzbetrunken. Dylan konnte nur hoffen, dass er bald in sein Bett fallen würde. Auch das erinnerte ihn wieder an unzählige ähnliche Vorfälle während seiner Kindheit. Er schloss seine Schlafzimmertür, legte sich mit dem aufgeschlagenen Buch ins Bett und las dieselbe Seite wieder und wieder, bis ihm die Augen zufielen.
    In der nächsten Woche ging Dylan seinem Vater aus dem Weg. Seine Wunden heilten, die Schmerzen ließen nach, und er begann, zunächst kurze und dann immer längere Spaziergänge zu unternehmen. Die Bewegung tat ihm gut, und während der letzten zwei Jahre hatte er sich daran gewöhnt, größere Entfernungen zu Fuß zurückzulegen. Er fühlte sich schon fast wieder fit genug, um in sein Studio zurückzukehren, was für ihn eine große Erleichterung bedeutet hätte.
    Und dann kam er eines Abends von einem ausgedehnten Spaziergang zurück und fand das Auto seines Vaters in der Einfahrt vor. Er seufzte. Eine gemeinsame Mahlzeit mit Dad war schlecht für die Verdauung und den Blutdruck; widerstrebend ging er ins Haus.
    Sein Vater saß in dem ledernen Clubsessel und sah fern. »Hi«, begrüßte Dylan ihn.
    Der ältere Matheson blickte auf. »Hallo.« Seine Stimme klang ganz normal, das hieß, dass er noch nicht allzu tief ins Glas geschaut hatte. Aber auf dem Tisch neben ihm stand ein mit Eis gefülltes Whiskyglas, was vermuten ließ, dass er in Kürze darangehen würde, der Flasche auf dem Kaffeetisch den Garaus zu machen.
    Dylan ließ sich in den kleinen Sessel fallen, der eigentlich für Gäste gedacht war. Es war schon immer sein Lieblingssessel gewesen, denn er stand am weitesten von Dads Platz entfernt. Mom saß stets ganz am Ende des Sofas -wenn sie überhaupt einmal zur Ruhe kam. Im Moment war sie gerade in der Küche beschäftigt.
    Sein Vater wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Film zu, der im Fernsehen lief. Butch Cassidy and the Sundance Kid. Butch und Sundance flohen gerade vor dem Sheriff; ritten über felsiges Gelände, um den indianischen Fährtensucher in die Irre zu führen. Dylan seufzte. Er kannte den Film in- und auswendig. Als er seinen Vater ansah, wurde ihm plötzlich klar, dass er beinahe mehr über zwei Banditen des neunzehnten Jahrhunderts wusste als über seinen nächsten Verwandten. Je länger er seinen Vater betrachtete, desto stärker wunderte er sich, warum dies so war.
    Ihm war nie zuvor aufgefallen, dass sein Vater die blauen Matheson-Augen hatte, die in der Familie und unter den Pächtern Iain Mórs so stark verbreitet gewesen waren; die Augen, die Dylan laut Malcolm davor bewahrt hatten, für einen englischen Spion gehalten zu werden. Als Kind hatte ihm nie jemand gesagt, dass er seinem Vater oder sonst einem der Mathesons ähnlich sah, weil er seine Farben hauptsächlich von seiner Mutter geerbt hatte. Dad und seine Brüder hatten alle mittelbraunes Haar und helle Haut. Es versetzte ihm einen kleinen Schock, als er begriff, dass er sein Leben vielleicht der Tatsache verdankte, seines Vaters Augen zu haben.
    Dad nahm die Flasche vom Tisch und goss sich einen großzügigen Drink ein. Als er die Flasche wieder abstellte, fiel Dylans Blick auf das Etikett. Er beugte sich vor, um besser sehen zu können. Nein, er hatte sich nicht geirrt. In altenglischer Schrift stand ein Name auf der Flasche: Glenciorram. Er ging zum Sofa, nahm die Flasche in die Hand und studierte das Etikett genau, erfuhr aber nur, dass es sich bei dem Inhalt um Maltwhisky handelte, der in Ciorram, Schottland, gebrannt worden war. Vorsichtig setzte er die Flasche wieder ab und schüttelte den Kopf, um die aufkeimenden Erinnerungen zu verdrängen. Er hatte sich geschworen, nicht zu viel zu grübeln, also bemühte er sich, sich auf den Bildschirm zu konzentrieren.
    Schweigend saßen die beiden Männer vor dem Fernseher, bis Mom das Essen auftrug, dann nahmen sie an einem Ende des langen Esszimmertisches Platz. Mom saß an der Küchentür, Dylan und sein Vater rechts und links von ihr. Und da sah Dylan ihre Lippe.
    Sie hatte dunklen Lippenstift aufgetragen, um zu verbergen, dass ihre Oberlippe aufgeplatzt und auf das Doppelte ihrer ursprünglichen Größe angeschwollen war. Am Morgen war die Lippe noch heil gewesen. Dylan starrte seinen Vater drohend an. Am liebsten hätte er den alten Säufer, der so unbeteiligt dasaß, als sei er sich keiner Schuld bewusst, vom Stuhl hochgezerrt und ihn grün und blau geprügelt, doch seine Mutter legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. Ihre Augen

Weitere Kostenlose Bücher