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Vogelfrei

Titel: Vogelfrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianne Lee
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zufiel.
    Er hatte ganz vergessen, wie es hier aussah. Zwei Jahre lang hatte er sich danach gesehnt, nach Hause zurückkehren zu können, trotzdem waren seine Erinnerungen allmählich verblasst und einige Einzelheiten gar völlig daraus verschwunden: der Stapel Turnmatten vor der Spiegelwand, die Pinnwand mit den Zeitungsausschnitten und Reklamezetteln, das zerbrochene Bürofenster. Verdammt, das hatte er auch vollkommen vergessen. Ronnie musste während Dylans Krankenhausaufenthalt das Loch mit einer Sperrholzplatte zugenagelt haben; er hatte in den letzten beiden Wochen auch Dylans Kurse mit übernommen und seine Sache anscheinend sehr gut gemacht. Guter alter Ronnie.
    Aus purer Neugier stieg er auf die Waage vor der Spiegelwand. Obwohl er vollständig bekleidet war und seit seiner Rückkehr etwas Gewicht zugelegt hatte, wog er zehn Pfund weniger als vor zwei Jahren. Der Spiegel zeigte ihm das Bild eines schlanken, muskulösen Mannes, der ausgesprochen durchtrainiert wirkte. Erst jetzt fiel ihm auf, wie viele überflüssige Pfunde er früher mit sich herumgeschleppt hatte. Nun waren sie verschwunden, die Haut spannte sich straff über einem kräftigen, nahezu perfekt modellierten Körper. Wieder stellte er erschrocken fest, wie sehr er sich verändert hatte.
    Er stieg die Treppe zu seiner Wohnung hoch. Dort roch es merkwürdig, nicht so, wie er es in Erinnerung hatte; ein Hauch von Moder wehte von den Duschen unten im Studio herauf, und in der Nähe der Heizung roch es nach verbranntem Staub. Dylan drehte den Thermostat herunter. Seit seiner Rückkehr fühlte er sich in zu warmen Räumen nicht mehr wohl. Hier in der Gegend drehten die Leute ihre Heizungen viel zu hoch auf, und das in diesem relativ warmen Klima!
    Er blickte sich um, beschwor Erinnerungen herauf, versuchte, sich zu freuen, dass er wieder daheim sein konnte, aber wenn er ganz ehrlich war, fand er seine Situation im Moment eher beunruhigend. Er wusste noch nicht einmal mehr, ob er froh sein sollte, die Operation überlebt zu haben.
    Die Küche fand er genau so vor, wie er sie verlassen hatte. Seit dem Tag, an dem er Amerika ... verlassen hatte, war niemand mehr hier oben gewesen. Er blieb stehen, überlegte einen Moment, griff dann in die Keksdose aus Keramik, die auf der Anrichte stand, und nahm ein Zimttoffee heraus. Die Dinger hatte er schon immer für sein Leben gern gegessen und während des ersten Jahres in Schottland furchtbar vermisst. Ungeduldig entfernte er die Zellophanhülle, schob sich das Toffee in den Mund und kostete den süßen Zimtgeschmack genüsslich aus. Dann schob er den klebrigen Klumpen in die linke Backentasche und ging ins Bad. Das Handtuch, das er vor zwei Jahren aus dem Regal gezogen hatte, lag noch immer auf dem Toilettensitz.
    Es war zu still hier. Ihm fehlte das Stimmengewirr, das Geschnatter von Kindern, die Unterhaltung der Erwachsenen, die Geschichten erzählten, von ihren Erlebnissen berichteten, über Dinge sprachen, die sich so oder so zugetragen hatten, oder über Dinge, die nie geschehen, deshalb aber nicht weniger wahr waren. Er sehnte sich nach einem Menschen, mit dem er reden oder dem er zuhören konnte. Ginny gehörte der Vergangenheit an. Sie hatte ihn noch nicht einmal im Krankenhaus besucht, und er dachte auch kaum noch an sie. Cody führte ihr eigenes Leben, in dem er nur eine Nebenrolle spielte. Eigentlich spielte er im Leben aller, die er hier kannte, nur eine Nebenrolle. Lähmendes Unbehagen beschlich ihn. Er setzte sich ins Wohnzimmer, konnte sich aber nicht dazu überwinden, die Fernbedienung zur Hand zu nehmen und den Fernseher einzuschalten. Er konnte auch zu Bett gehen, aber er war überhaupt nicht müde. Schließlich ging er wieder nach unten, verließ das Studio und schlenderte die Main Street entlang zu einem Restaurant am See, das auch eine Bar hatte.
    Dort saßen mehrere Gäste, und er fühlte sich augenblicklich wohler. Er setzte sich an die Theke und bestellte ein Ale. In Tennessee ein Ale zu verlangen war ähnlich exotisch wie in New York nach Hafergrütze oder in Glasgow nach einem Burrito zu fragen, aber er wagte den Versuch trotzdem. Das Getränk wurde vor ihn hingestellt, und als er daran nippte, fand er, dass es schwächer war als das, woran er gewöhnt war. Trotzdem schmeckte es ihm besser als Bier. Er blickte sich um: Neonschilder, dunkle Ecken und andere Amerikaner, die ihm an diesem Abend Gesellschaft leisten sollten.
    An einem der Billardtische stand ein junges Pärchen. Dylan sah

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