Vogelfrei
sich um Sarah, die Männer wanderten schweigend hinter dem aufgebahrten Leichnam her, während die Dudelsäcke unaufhörlich alle Bewohner des Tales aufforderten, an der Totenfeier für den verstorbenen Alasdair Matheson teilzunehmen. Schließlich versammelte sich der gesamte Clan Matheson auf einem kleinen Friedhof am Fuße der Granitfelsen, dort, wo das östliche Ende des Tales eine Biegung gen Norden beschrieb.
Die Menge blieb stehen, während die Träger dreimal im Uhrzeigersinn um eine bestimmte Stelle herumschritten, ehe sie den Leichnam behutsam absetzten. Dylan blickte sich um und wunderte sich, wieso noch kein Grab ausgehoben worden war, obwohl mehrere Schaufeln an der Wand der Kirche bereitstanden. Nur wenige Gräber wiesen Kreuze oder Grabsteine auf, dennoch war klar ersichtlich, dass gerade im Lauf der letzten Jahre hier unverhältnismäßig viele Menschen zur letzten Ruhe gebettet worden waren. Es gab Grabstätten jeder Größe, einige waren Mitleid erregend klein, andere breit genug für eine ganze Fa- milie, sie alle jedoch bestanden lediglich aus festgestampfter Erde oder waren mit Gras bewachsen. Unweit der für Alasdair bestimmten Stelle entdeckte Dylan ein ganz frisches Grab; es sah aus, als sei es erst nach dem letzten stärkeren Regen angelegt worden.
Die Kirche war klein, aber überraschend gut ausgestattet, sogar in Dylans an die architektonischen Finessen des 20. Jahrhunderts gewöhnten Augen. Das spitz zulaufende Dach war mit üppigem Schnitzwerk verziert, über der Tür prangten prächtige holzgeschnitzte Symbole, und die Vorderfront des Gebäudes wurde von einem runden, kunstvoll gearbeiteten bleigefassten Buntglasfenster beherrscht. Dylan hatte keine Ahnung, wann die Kirche erbaut worden sein mochte, aber sie wirkte sogar für dieses Jahrhundert alt und verwittert. Nichtsdestoweniger war sie das am besten in Stand gehaltene Gebäude im ganzen Tal, auch die Burg konnte da nicht mithalten.
Die Gemeinde gedachte Alasdair Mathesons, des jüngsten Opfers der immer noch andauernden Kontroversen mit den Engländern, mit einer langen, von Dudelsack-klängen und dem lauten Wehklagen der Frauen begleiteten lateinischen Predigt, die von einem großen, knochigen Priester in schwarzer Soutane und einer weißen, mit Goldfäden durchwirkten Stola gehalten wurde. Dylan hielt sich respektvoll an der Mauer am Ende des Friedhofs, etwas abseits der Männer des Matheson-Clans, die der Rede mit versteinerten Mienen lauschten, und bemühte sich, sich nicht von der allgemeinen Trauer anstecken zu lassen. Er wagte nicht, zu Sarah und ihren drei kleinen Jungen hi-nüberzublicken, weil er fürchtete, sonst seine so mühsam aufrechterhaltene Selbstbeherrschung zu verlieren. Der älteste Junge war noch keine fünf Jahre alt, und der Kleinste konnte kaum laufen. Sie waren viel zu jung, um ihren Vater auf diese Weise zu verlieren.
Plötzlich tauchte Sinann aus dem Nichts auf und blieb ein Stück über dem Boden in der Luft schweben, um ihm in die Augen sehen zu können. »Furchtbar, nicht wahr?«
Dylan senkte den Kopf und erwiderte nichts darauf.
Sie landete neben ihm und fuhr mit tränenerstickter Stimme fort: »Drei unschuldige Kinder haben ihren Vater verloren, nur weil so ein Lowlandschwein ein Auge auf ihr Land geworfen hatte und es mit Unterstützung der englischen Krone an sich reißen wollte. Die Engländer bringen uns um, mein Freund. Manchmal gleich scharenweise, manchmal einzeln, einen nach dem anderen. Wenn es nach ihnen ginge, würden die Schotten vom Angesicht der Erde ausgelöscht, und niemand würde je wieder etwas von ihnen hören und sehen. Du kannst verhindern, dass es so weit kommt.«
Wieder gab Dylan keine Antwort, sondern kniff nur die Augen zusammen.
Sinann flatterte auf und blickte sich um. »Siehst du die beiden da drüben? Den Lord und die Lady?«
Dylan blinzelte durch die Wimpern, ohne den Kopf zu heben. Nicht weit von ihm entfernt stand Iain Matheson und unterhielt sich flüsternd mit einer Frau, die Dylan noch nie gesehen hatte. Sie war hoch gewachsen, hatte edle Züge und strahlte eine majestätische Würde aus, und sie stand Iain im Alter näher als die Blondine, die er bislang für die Gemahlin des Lairds gehalten hatte. Er schielte zu Sinann hinüber, dann zu der Frauenschar, in deren Mitte er die hübsche blonde Frau von voriger Nacht entdeckte; auch sie schien aufrichtig um Alasdair Matheson zu trauern.
Sinann fuhr fort: »Iain Matheson steht unter dem Verdacht, mit den
Weitere Kostenlose Bücher