Vogelfrei
andere saßen daneben und aßen etwas aus hölzernen Schüsseln; zwei weitere Männer lagen, in ihre Plaids gewickelt, schlafend am Boden, einer in einer Ecke, der andere unter einer Bank. Schließlich gelang es den Frauen, die lärmenden Kinder unter lautstark gezischten gälischen Ermahnungen aus dem Raum zu scheuchen.
Alasdair Mathesons Leichnam lag noch immer auf dem Tisch an der Längsseite der Wand, war inzwischen jedoch in ein weißes Tuch gehüllt worden. Nach der nächtlichen Totenwache achtete kaum noch jemand auf ihn, dennoch herrschte beim Essen bedrücktes Schweigen.
Plötzlich zerriss ein gellendes Geschrei die Stille. Dylan fuhr herum und erblickte einen jungen Mann, der wie ein Wahnsinniger auf und ab hüpfte und dabei auf ihn zeigte. »Ha shee!«, kreischte er in höchster Aufregung. »Ha shee! Ha shee!« Er trug keinen Kilt, nur ein schmutziges langes Hemd und abgetretene Schuhe. Sein Gesicht wurde von wirren, fettigen Haaren fast völlig verdeckt, doch der Flaumbart und die hohe Stimme verrieten, dass er noch sehr jung war. Eine der Frauen erhob sich vom Tisch, um ihn zu beruhigen.
»Was ist mit ihm?«, flüsterte Dylan Sinann zu.
Die Fee landete auf dem Boden, und Dylan bemerkte, dass sie sich hinter seinem Rücken versteckte, um von dem tobenden jungen Mann nicht entdeckt zu werden. »Achte nicht auf ihn. Er ist schwachsinnig.«
»Er kann dich sehen, oder?«
»Aye, und verflucht soll er dafür sein.« Wutschäumend beobachtete Sinann, wie der Unruhestifter genötigt wurde, Platz zu nehmen und den Mund zu halten. Schließlich hörte er auf zu schreien, starrte aber die Fee nach wie vor unverwandt an.
Dylan fiel auf, dass die Frau, die den Burschen beschwichtigt hatte, dieselbe war, die ihm in der vergangenen Nacht den schmerzlindernen Trank gebracht hatte -Iains junge Gemahlin. Rasch wandte er den Blick ab, um nicht erneut dabei ertappt zu werden, wie er sie anstarrte. Trotzdem freute er sich unverhältnismäßig, sie wieder zu sehen, und riskierte immer wieder einen verstohlenen Seitenblick. Dann drehte er sich zu Sinann um. »Wieso kann der Junge dich sehen?«
»Ich habe es dir doch gesagt. Er ist schwachsinnig. Nicht ganz richtig im Kopf.«
»Ach so. Geistig behindert.«
Die Fee schnaubte. »Du hast eine Art, Tatsachen zu beschönigen, die jedem Engländer zur Ehre gereichen würde, mein Freund.« Wieder musterte sie den jungen Mann finster. »Alle anderen kann ich täuschen, aber über ihn und seinesgleichen habe ich keine Macht.«
Der Schwachsinnige murmelte immer noch »Ha shee, ha shee« vor sich hin.
»Was sagt er eigentlich?«
Sinann seufzte. »Tha i a'Sidhe. Er erzählt allen, dass ich hier bin.« Dann zischte sie dem Jungen zu: »Still jetzt, Ranald!« Doch ihre Worte schienen ihn nur noch mehr aufzuregen.
»Offenbar schenkt ihm niemand Glauben.«
»O doch.«
»Die Leute hier glauben allen Ernstes an Feen?«
»Du nicht?« Sinann machte eine allumfassende Handbewegung. »Jeder hier im Raum weiß, dass ich hier bin, aber selbst wenn ich zulassen würde, dass sie mich sehen, würden sie es nie öffentlich zugeben, weil sie nicht der Hexerei bezichtigt werden wollen. Du solltest dich auch etwas mehr vorsehen. Setz dich jetzt und iss. Du kehrst heute nicht nach Hause zurück, und du wirst deine Kräfte noch brauchen.«
Dylan runzelte die Stirn, ging aber gehorsam durch die Halle und ließ sich auf einem leeren Stuhl nieder. Der Hund folgte ihm. Sarah kam von der Feuerstelle herüber und reichte ihm eine hölzerne Schüssel und einen Löffel. Dylan dankte ihr, und sie zog sich leise zurück. Die Schale enthielt eine graue, dampfende Pampe. Dylan probierte misstrauisch und stellte fest, dass man ihm Haferbrei vorgesetzt hatte. Igitt. Der dicke, klebrige Brei war ganz ohne Zucker oder Butter, lediglich mit etwas Milch zubereitet und schmeckte recht gut, wenn auch etwas fad, und er wirkte ungemein sättigend.
Sinann nahm auf der Bank neben ihm Platz und bemerkte: »Sie ist sehr hübsch, nicht wahr?«
Dylan zwang sich, Sarah nicht hinterherzuschauen, und starrte stattdessen in seine Schüssel. »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, Tinkerbell. Ich bin nicht zu haben, und wenn du mich zehn Jahre lang hier behältst. Also schick mich lieber nach Hause zurück. Je eher, desto besser.«
»Wieso bist du dir so sicher, dass ich dich überhaupt nach Hause schicken kann?«
Dylan war schon im Begriff, sich umzudrehen und sie böse anzufunkeln, besann sich aber und widmete
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