Vogelfrei
hatte jetzt all seine Blätter verloren; die nackten Äste hingen trübselig bis auf den Boden hinunter. Caitrionagh teilte sie mit den Händen und schlüpfte hindurch, Dylan tat es ihr nach; das gefrorene Erdreich knirschte unter ihren Füßen. Dann hüpfte sie auf die Überreste der äußeren Burgmauer, von der nur ein wenige Fuß breiter niedriger Geröllstreifen übrig geblieben war, der sich am Rand der Insel entlangzog.
»Was ist eigentlich mit dieser Mauer geschehen?«, fragte er teils aus Neugier, teils, um ein Gespräch anzuknüpfen.
Caitrionagh balancierte über die Steine, und er folgte ihr. »Du hast doch selber gesehen, dass einige der Häuser im Dorf aus Stein gebaut sind«, erklärte sie. »Als diese Burg das letzte Mal angegriffen wurde, schlugen die Feinde eine Bresche in die Mauer. Siehst du, dort drüben bei der Zugbrücke haben sie Feuer gelegt, um das ganze Bauwerk zum Einsturz zu bringen. Trotzdem wurde der Angriff zurückgeschlagen, und meine ... unsere Matheson- Vorfahren hielten die Burg. Die MacDonells gaben sich schließlich geschlagen und zogen ab. Die Mathesons befanden, dass der strategische Wert dieser Festung die Kosten für den Wiederaufbau nicht aufwog, und benutzten sie seither nur noch als Wohnhaus. Die Steine der äußeren Burgmauer wurden für andere Zwecke verwendet, und der äußere Burghof dient jetzt als Weide für die Schafe.«
Dylan blickte sich um, als würde ihn all das brennend interessieren. »Ich verstehe.« Er musste Caitrionagh im Auge behalten, falls sie ausrutschte und in das eisige Wasser fiel. Aber da er nicht allzu aufdringlich erscheinen wollte, hob er ein paar flache Steine vom Boden auf, um sie über das Wasser hüpfen zu lassen.
»Oh!«, rief Caitrionagh plötzlich und nahm ihm einen Stein aus der Hand. »Sieh nur!« Sie hielt ihm den Stein hin. Er sah aus wie ein Doughnut. »Ein Götterstein.«
»Ein was?«
»So nennt man die Steine mit einem Loch in der Mitte. Sie haben magische Kräfte.«
Alles, nur das nicht! »Wirklich?«
»Aber ja. Schau durch das Loch, dann kannst du sehen, ob Feen in der Nähe sind.«
Mit einem Mal war sein Interesse geweckt. »Tatsächlich?« Er hielt den Stein wie ein Monokel ans Auge und blickte sich um. Natürlich, da saß Sinann in der Weide hinter ihm auf einer Astgabel. Er winkte ihr zu, und sie streckte ihm die Zunge heraus.
Caitrionagh kicherte. »Was machst du denn da?« Dann legte sie ihm plötzlich eine Hand auf die Brust. Er blieb still stehen; der Götterstein war vergessen. Sie sah ihm tief in die Augen, bis er meinte, das Blut in seinen Ohren rauschen zu hören, murmelte: »Ich muss mir kurz etwas ausborgen« und knöpfte sein Hemd auf. Dylan hielt den Atem an. Ihre Hand glitt unter den rauen Stoff, ihre Finger tasteten suchend über seine Haut.
Dann bekam sie seinen Dolch zu fassen und zog ihn aus der Scheide, die er unter dem Arm trug. »Hey, was soll das?«, protestierte er enttäuscht, als er sah, wie sie einen dünnen Zweig abschnitt, ihn in zwei fingerlange Stücke zerteilte und ihm das Messer zurückgab. Ein Stück steckte sie sich in den Mund, das andere reichte sie ihm.
Sinanns Stimme erklang über seinem Kopf aus dem Geäst. »Sie spielt mit dir, mein Freund.«
Dylan achtete nicht auf sie, verstaute den Stein in seiner Tasche, nahm sein Zweigstück und schob es sich ebenfalls in den Mund. »Ein Zahnstocher. Gute Idee.« Er kaute auf einem Ende herum. »Ich dachte schon, ich müsste mir die Zähne mit meinem Dolch säubern.«
Caitrionagh lachte und schlug vor, dass sie sich auf den Rückweg machen sollten.
Dylan drehte sich noch einmal nach der Weide um. Wenn Sinann noch da war, würde er den Stein brauchen, um sie sehen zu können. Er wandte sich an Caitrionagh. »Verrate mir doch endlich, was letzte Nacht mit dir los war.«
Sie nahm den Zweig aus dem Mund und dachte einen Moment nach, dann sagte sie: »Du solltest dir deswegen wirklich keine Gedanken machen.«
»Also hattest du deine Worte gar nicht so gemeint?«
»Nein.« Ein leises Lächeln spielte um ihre Lippen. »Aber das braucht in der Burg niemand zu wissen, sonst werden wir auf Schritt und Tritt beobachtet. Mir ist es lieber, wenn alle denken, ich würde jede Nacht meine Tür vor dir verriegeln und nur dann mit dir sprechen, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt.«
Dylan nickte gleichmütig, innerlich aber jubelte er. »Darf ich dann davon ausgehen, dass du deine Tür nicht vor mir verriegeln wirst?«
Sie drehte sich um und
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