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Vogelfrei

Titel: Vogelfrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianne Lee
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verschwunden ist?«, verbesserte er sich hastig. »Heißt er nicht Seóras Roy?«
    Caitrionagh runzelte die Stirn.
    »Genau den meine ich. Er ist seiner Hure nach Inverness gefolgt und hat Marsaili und die Kinder einfach ihrem Schicksal überlassen. Ihre Schwester arbeitet in der Burgküche, sie hilft, wo sie nur kann, aber eine Frau braucht ihren Ehemann und Kinder ihren Vater. Ein jämmerlicher Feigling ist er. Marsaili leidet unter einer Art Auszehrung. Manche Leute behaupten, sie sei besessen. Vater würde toben, wenn er wüsste, dass ich sie besuche.«
    Dylan blieb wie angewurzelt stehen. Sie drehte sich verwundert zu ihm um. »Wenn das so ist, dann gehen wir nicht dorthin«, erklärte er bestimmt.
    Sie lächelte nur süß. »O doch, das tun wir. Wie willst du mich denn daran hindern?«
    Dylan nahm sie am Arm. »Nein. Wenn dein Vater nicht wünscht, dass du dorthin gehst...«
    »Seine Familie droht ja nicht zu verhungern, nicht wahr?«
    »Gut, dann lass mich den Korb zu ihr bringen.«
    »Dylan ...« Ihr Blick besagte deutlich, dass er etwas ausgesprochen Törichtes gesagt hatte. Er wusste, was sie meinte. Das Geschenk würde seine Bedeutung verlieren, wenn er es überbrachte.
    Vorsichtig fragte er: »Warst du deshalb letzte Nacht so aufgeregt? Weil du gedacht hast, ich würde dir nicht erlauben, Marsaili zu besuchen?«
    Sie sah ihn verwirrt an, dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Nein, nein, das hatte ganz andere Gründe.« Der Wind wehte ihr das Ende ihres Schals ins Gesicht, und sie schob ihn zur Seite. »Vergiss es einfach, es war nicht weiter wichtig.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging weiter. Dylan folgte ihr.
    »Was für Gründe meinst du denn? Du hast ausgesehen, als würdest du vor Wut fast platzen. Was ist denn los mit dir?«
    »Gar nichts.«
    Dylan blieb ein Stück hinter ihr zurück und seufzte, dann beeilte er sich, sie wieder einzuholen. »Gut, wir gehen, aber achte darauf, im Haus dieser Frau nichts zu berühren. Und halte dich von ihr fern. Gib ihr nicht die Hand und lass sie nicht zu nah an dich herankommen. Wenn du mir das versprichst, kannst du sie besuchen.«
    Sie sah ihn belustigt an. »Und wenn ich das nicht tue? Wirfst du mich dann wie ein großer, grober Wikinger über deine Schulter und schleppst mich zur Burg zurück?«
    Dylan betrachtete ihr weißblondes Haar und fragte sich, wie viele ihrer Vorfahren wohl Wikinger gewesen sein und genau das getan haben mochten. »Gut möglich.« Vergeblich bemühte er sich, das Lächeln zu unterdrücken, das um seine Lippen spielte.
    Caitrionagh grinste breit, sagte jedoch nichts mehr, sondern setzte unbeirrt ihren Weg fort. Dylan schüttelte den Kopf, kicherte in sich hinein und hielt sich an ihrer Seite.
    Die Torfhütte, in der Marsaili lebte, lag am Ende des Tals direkt am steilen Südhang; einer Gegend, die zu dieser Jahreszeit besonders unwirtlich und abweisend wirkte, sogar wenn einmal die Sonne schien. Zwei Mädchen sowie ein kleiner Junge standen vor der Tür. Das ältere Mädchen hatte den erschöpften ausgelaugten Gesichtsausdruck eines Kindes, dem viel zu früh die Pflichten eines Erwachsenen aufgebürdet worden waren. Dylan hatte im Laufe der Jahre schon viele solcher Kinder gesehen. Sie nahmen bei ihm Kung-Fu-Unterricht, um sich gegen Erwachsene oder ältere Kinder zur Wehr setzen zu können.
    Er blieb in der Tür stehen, von wo aus er Caitrionagh im Auge behalten konnte, und unterhielt sich mit der Vorstellung, sie gegen von einem rivalisierenden Clan angeheuerte Mafiakiller verteidigen zu müssen.
    Marsaili saß in einem hochlehnigen Stuhl vor dem Feuer; eine karierte Decke bedeckte ihre Beine. Sogar in dem schwachen Licht konnte Dylan erkennen, dass ihre Gesichtshaut grau und trocken und ihre Lippen bläulich verfärbt waren. Da die Frau nicht hustete, hoffte er, dass sie vielleicht doch nicht - wie er zunächst angenommen hatte - an Tuberkulose litt, aber er war kein Arzt und kannte tödliche Krankheiten nur aus dem Fernsehen. Er konnte nur raten, woran Marsaili langsam starb. Vermutlich an Krebs, dachte er. Hoffentlich nicht an etwas Ansteckendem.
    Als er sie genauer betrachtete, stellte er fest, wie stark ihr Gesicht schon von Schmerzen gezeichnet war. Tiefes Mitleid überkam ihn. In seiner Heimat linderte man die Qualen todkranker Menschen mit Morphium. Hier gab es nur Whisky oder Weidenrindentee. Er blickte sich um und entdeckte tatsächlich einen Steinkrug auf einem niedrigen Tisch. Also versorgte irgendjemand sie

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