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Vogelfrei

Titel: Vogelfrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianne Lee
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gerade so weit, dass sie sie unauffällig wieder schließen konnte, falls jemand kommen sollte. Von seinem Platz aus konnte Dylan jeden rechtzeitig sehen, der von unten hochkam, und ihn laut begrüßen, um Cait zu warnen. Kam jemand von oben herunter, so sah Cait seine Füße, ehe er nahe genug war, um zu bemerken, dass die Tür einen Spaltbreit offen stand. So war dafür Sorge getragen, dass jeder, der zufällig vorbeikam, eine geschlossene Tür vorfinden und Dylan bei Kerzenschein lesen sehen würde - allein.
    Manchmal las er ihr einige Gedichte vor, manchmal sie ihm. Ihre Stimme klang ruhig und weich, ihr Haar schimmerte in dem flackernden Schein der Kerze, und er hörte gebannt zu, wenn sie las, ihm von ihren Träumen und Hoffnungen erzählte und ihm manchmal auch Fragen über Amerika stellte.
    »Wie sind die roten Wilden denn wirklich? Ich habe gehört, es sollen grausame, blutrünstige Krieger sein«, sagte sie eines Nachts Anfang Februar. Dabei schlang sie die Arme um die Knie, stützte ihr Kinn darauf und sah ihn aus großen Augen an. Anscheinend war sie nicht sicher, ob sie all die grässlichen Einzelheiten auch wirklich hören wollte.
    Die Frage stellte Dylan vor eine schwierige Entscheidung. In seiner eigenen Zeit verhielten sich die Indianer ruhig und friedfertig, aber er wusste, dass gerade jetzt, wo Cait und er sicher in der Burg saßen, überall in den Kolonien erbitterte Gefechte zwischen Weißen und Roten stattfanden und die Siedler in ständiger Angst vor dem nächsten Überfall lebten.
    Andererseits lag die Zeit nicht mehr fern, wo sich seine weißen mit seinen indianischen Vorfahren vermischt hatten. Er wusste zwar nicht, unter welchen Umständen dies geschehen war, nahm aber an, dass die Vereinigung auf freiwilliger Basis zu Stande gekommen war. Eine Vergewaltigung wäre niemals in die Familienchronik aufgenommen worden, die seine Mutter viele Jahrzehnte später gefunden hatte.
    So antwortete er auf Caits Frage ausweichend: »Sie stellen nur für die Leute eine Gefahr dar, die außerhalb der großen Städte leben. Die Indianer lieben die Weißen nicht sonderlich.« Aus gutem Grund.
    »Aber du hast nie einen von ihnen getötet, oder?«
    »Das musste ich zum Glück nie.« Auch das stimmte.
    »Vermisst du Amerika manchmal?«
    Das tat er, aber sie würde ihn nicht verstehen, wenn er ihr erzählte, was er am meisten vermisste. Wie konnte er ihr erklären, wie sehr ihm sein Fernseher fehlte oder dass er nachts von Toffees mit Zimtgeschmack träumte? Oder dass er häufig Appetit auf eine Portion Pommes frites hatte? Die Schotten dieses Jahrhunderts wussten ja offensichtlich noch nicht einmal, was eine Kartoffel war. Er seufzte, dann fragte er sie: »Hast du dir schon einmal vorgestellt, wie es wäre, wenn du fliegen könntest?«
    Sie kicherte leise. »Fliegen? Wie ein Vogel?«
    »Wie ein Vogel, so schnell und so hoch, dass du an einem Tag die halbe Welt umrunden könntest. Würde dir das gefallen?«
    Ihre Augen glitzerten vor Aufregung. »Die halbe Welt? Ich war noch nie in England, und ich würde furchtbar gerne einmal dorthin reisen.«
    »Wenn du fliegen könntest, wärst du in ...«, er schätzte die Flugzeit kurz ab, »... in ungefähr einer Stunde dort.«
    »Das wäre herrlich!« Ehrliche Begeisterung schwang in ihrer Stimme mit. »Du solltest öfter Geschichten erzählen, du hast ...«
    »Nur Jauche im Hirn, ich weiß.«
    Caitrionagh lachte so laut, dass er warnend einen Finger an die Lippen legte. Dann sagte er: »Was wäre, wenn es eine Maschine gäbe, in die du hineinsprechen könntest, und jemand, der sich an einem ganz anderen Ort befindet, würde dich hören?«
    Sie dachte einen Moment lang nach. »Meine Mutter zum Beispiel?«
    Das versetzte ihm einen Stich. Ihm war noch nie aufgefallen, wie sehr sie ihre Mutter, die noch immer in Killilan weilte, vermisste. »Ja, auch deine Mutter. Du könntest das Tele... diese Maschine jederzeit benutzen, um mit ihr zu reden. Und sie könnte dir antworten.«
    Cait zog ihre Decke enger um sich. »Könntest du auch mit deiner Mutter in Amerika sprechen?«
    Dylan wurde das Herz schwer. Wusste seine Mutter überhaupt, dass er fort war? Oder vielmehr - würde sie es in 286 Jahren wissen? Würde Sinann ihn je in seine eigene Zeit zurückschicken, oder würde er schon längst zu Staub zerfallen sein, wenn Mom seine Abwesenheit bemerkte?
    »Du vermisst deine Familie doch sicher sehr«, sagte Cait leise.
    »Ja.«
    Sie erhob sich, kam zu ihm herüber und setzte

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