Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
malträtierte, der einzige Leidenspunkt vielleicht. Ich meine, ein Klavier hat insgesamt 88 Tasten und sieben Oktaven, davon 52 weiße und 36 schwarze. Wie konnte sich Kai da entscheiden, welche zu seiner Melodie passten? Er tat dies wahrscheinlich intuitiv, oder weil ihm Notenblätter dabei halfen, aber für die Liebe oder für das, was wir alle dafür hielten, gab es nun mal keine Notenblätter. Kai spielte weiter diese anrührende Melodie, und ich musste weiter, wenn ich hier nicht dem Dufthauch des Mädchens gemischt mit dem Wohlklang des Klaviers erliegen wollte. Fünf Schritte. Meine Wohnungstür. Eine Schlüsseldrehung später war ich da, wo es nach mir roch, und ich liebte die Undurchsichtigkeit und Undurchdringbarkeit dieser Wände.
Ich ließ mich auf mein altes Sofa fallen, vergrub den Kopf in meinen Händen. Wofür eigentlich? Meinen Kopf guckte hier eh keiner an, aber in meinen Händen, stellte ich fest, da fühlte er sich wohl, mein Kopf. Ich ließ ihn also da liegen und streichelte meinen Haaransatz. Stumme Fragen im Kopf, die ich gern herausschütteln würde. Bringt es was, den Kopf gegen die Wand zu schlagen, und fallen dann auch nur die bösen Gedanken raus, wenn sich so ein Kopf öffnet? Welche Relevanz hat überhaupt so ein Kopf?
Es war jetzt früher Abend und ich roch immer noch nach Scheiße. Zumindest hatte ich das Gefühl, nach menschlicher Ausscheidung zu riechen. Das Trauerbild meiner Mutter im Kopf und mehr als ich ertragen konnte auf den Schultern. Gedankliche Gewichte, die mich in den Boden drückten. Diese ständige Konfrontation mit der Vergänglichkeit machte mich traurig, ließ mich selbst irgendwie an einem mentalen Abgrund stehen und runtergucken. Aber da war nur ein Loch, das sich Zukunft nannte. Ich sehe nicht, was niemand sieht, und das ist Zukunft und uncoloriert naturbelassen, bis sie passiert. Ich dachte, ich warte.
Meine Plattensammlung konnte all das verstärken oder auslöschen. Mächtige, heilige Plattensammlung. Mich dürstete nach Egotanz, ich hörte Kai noch leiser und trauriger klimpern als zuvor und wollte dieser Emotion etwas gegenüberstellen. Im CD-Schubfach lag noch die Boa-Platte, nee, das wäre jetzt zu viel, zu intensiv, zu attackierend; ich brauchte plumpes Gehirngedusche, etwas, was mich sauber machte und meine uneffektive Trauer wegsprengte. Ich brauchte einen Bombenangriff auf meine melancholische Befindlichkeit, das Schlechte auszulöschen und den Missmut im Feuer der Sprengkraft vergehen zu lassen. Mächtige, heilige Plattensammlung hilf!
Zwei fürchterlich miese, aber dafür ultrabrutale Grindcoreplatten und eine Dusche später war meine Ausgeglichenheit wieder hergestellt, und ich schaltete von Grindcoremodus auf Normalbetrieb um. Kai hatte mittlerweile aufgehört zu spielen und draußen vor dem Fenster verdunkelte sich der Abend. Ich war so froh über diese Wohnung mit Balkon und trat hinaus in die Stille der mich umgebenden Finsternis, um zu rauchen. Die Ruhe war diese typische Naturruhe, mit Vogelgezwitscher, leichtem Baumrascheln und entfernten Verkehrsgeräuschen. Schön. Da wurde mir bewusst, dass man die allerimposanteste Ruhe nur nach dem allerlautesten Geschrei wirklich gut genießen konnte. Sie war einfach deutlicher, die äußere Ruhe, aber wenn ich die äußere Ruhe manchmal meiner inneren Unruhe gegenüberstellte, dann gewann mein innerer Wellengang.
Nach zwei Zigaretten ging ich wieder rein, las noch ein wenig in einem Woody-Allen-Buch und fand das irgendwie nicht witzig, die Worte, die Zusammenhänge, all das fand meinen Kopf nicht, wurde vorbeigeschleudert an meinem Verständnis, traf nicht mein Bewusstsein. Vielleicht lag es auch an dieser Müdigkeit, die mich seit Kurzem beschattete. Dieser gab ich nun nach und wünschte mir selbst eine gute Nacht, in die ich nun wild entschlossen eintauchte.
***
Es ist gut, wenn man Leute, die man mag, für sich singen lassen kann. Ich ließ eine Zeit lang gern alte, beizeiten sogar tote Frauen und Männer für mich singen, nur um mich selbst nicht alt zu fühlen. Wenn man sich mit noch älteren Genen umgab, dann war die eigene Vergänglichkeit noch ein Stück dünner, da war doch noch Platz zwischen der Generation der Sterbenden und meinem eigenen Ableben.
Aber jeden Morgen sang mich ein Lebendiger vom Schlaf ins Wachsein. Moby: «... in my dreams I’m dying all the time ...» Porcellain . Jeden Morgen erwachte ich mit diesen Worten, die mich zärtlich wachküssen wollten und gleichzeitig
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