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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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weil es so gefahrlos, vertraut und harmonisch klang und man sich in das Bett der aus der Ferne tropfenden Musik fallen lassen konnte mit einem Wohlgefühl, das sich so wunderbar individuell selbstgemacht anfühlte.
    Manchmal erkannte ich Chopin oder Bach, manchmal vertiefte sich Kai in jazzige Arrangements, sehr oft hörte ich aber auch subtil schöne weibliche Begattungslaute aus seiner Wohnung. Der Typ hatte wirklich mächtig Erfolg bei den Frauen, er genoss das Privileg, sich wohl durch die Musik, die er am Klavier spielte, in diverse Vaginen Einlass zu gewähren. Ich mochte Kai, auch wenn ich ihn selten sah und es manchmal aus seiner Wohnung nach Leberwurst mit abgelaufenem Verfallsdatum roch. Er spielte so schön Klavier, und die Frauen, die oft bei ihm waren, blieben meist nie länger als eine Nacht, und ich glaube auch, dass er nie Frühstück für sie machte. Manchmal sah ich bildhübsche Frauen das Treppenhaus hinabschreiten, die mit Kai eine Nacht verbracht hatten. Erst Beethoven, dann Betthüpfen.
    Kai war etwa in meinem Alter, also Mitte dreißig und von sehr drahtiger Erscheinung. Es gibt ja Leute, die sich nur von Musik und Liebe ernähren können, ich glaube, dass Kai so jemand war. Er war ja eigentlich ein wunderschöner junger Mann, der vielleicht etwas ungepflegt durch sein Leben stolperte, aber ich glaube, er hatte alles, was ihn glücklich machte: Musik und eine Vielzahl ihn besuchender und begehrender Damen. Ein reduziertes Leben. Den Mehrbedarf ausgebremst.
    Ich ging an seiner Tür vorbei und blieb kurz stehen. Kai spielte, es war etwas russisch Trauriges, etwas tranig Süffiges, als ob er wusste, welcher Soundtrack zu meiner Befindlichkeit passen würde, wenn ich nach Hause kam. Das Stück war schleppend, die Akkordwechsel abgehackt. Ich wusste nicht, ob eine Frau bei ihm war, wenn ja, musste es wohl eine Osteuropäerin oder Russin sein, eine, die mit so viel Schwermut umgehen konnte. Russische Klassik war ja sehr häufig in dieser Gefühlslage angesiedelt.
    Kai spielte mit viel misanthropischem Gefühl, das Klavier fügte sich ganz seiner Stimmung. Die Melodie erzählte viele traurige Geschichten von unerfüllter Sehnsucht und von der Gewohnheit, Liebe zu verlieren und Schmerz zu ertragen, zumindest kam mir das so vor. Ich stand mit geschlossenen Augen vor Kais Wohnungstür und wog mich in dem Rhythmus, den ich glaubte zu erkennen, hin und her. Ich sah grauen Beton, ich sah weinende Menschen, ich sah verschimmeltes Toastbrot, das auf einem grauen Heizkörper lag. Mein Gehirn schickte zufällige Assoziationen in mein schleppendes Bewusstsein, inspiriert von Kais Klavierspiel.
    Plötzlich sprang die Tür auf. Ein Windhauch parfümgetränkte Atmosphäre presste sich aus Kais Wohnung, gemischt mit Alltagsfäulnis und dem Geruch nachlässig gewaschener Menschenkörper. Ich öffnete die Augen wieder, die Musik hörte nicht auf und ein rothaariges Mädchen in einem blauen Sommerkleid stand vor mir. Lange Locken umrahmten ein zierliches, puppenartiges Mädchengesicht, das aber ohne Ausdruck blieb. Sie schaute mich trocken an, und ich konnte die Melancholie so schnell nicht von mir abstreifen, also sah ich sie wohl voller Traurigkeit an. Sie ging links an mir vorbei und eilte ins Treppenhaus. Vorher schlug sie noch die Tür zu, was aber Kais Spiel nicht beeinflusste, er klavierte weiter, immer noch diese melancholische Note auf die Klaviatur zaubernd. Die sommerliche Rothaarige war schon unten im Treppenhaus, ich hörte die schwere, alte Haustür, die auf- und wieder zusprang, und kleine, immer leiser werdende Schritte, die das Fortschreiten des Mädchens bestätigten. Kai hörte nicht auf zu spielen, was für eine abstruse Situation.
    Gab es Stress? Ich wusste ja, dass die Rothaarige nicht die einzige von Kai Beschlafene war. Vielleicht hatte er ja auch non-sexual Girlfriends ? Oder eine Schwester? Ich wusste fast so wenig über meinen Nachbarn wie über die schöne rothaarige Frau, die soeben seine Wohnung verlassen hatte. Ich wusste nicht, was ich von diesem Phänomen der vorbeilaufenden, wohlriechenden Frau halten sollte, aber irgendwie befiel mich eine Sehnsucht, immer noch untermalt von Kais wundervollem Pianospiel, nach innig gelebter Liebe.
    Kai war bestimmt kein schlechter Mensch, der seine Frauen mit Absicht verletzen wollte, vielleicht konnte er sich einfach nicht entscheiden. Wegen der Vielzahl der Möglichkeiten. Optionale Vielfalt war vielleicht auch das, was ihn in seinem Leben

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