Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
mir fehlte, war seine pure Liebe, sein Neben-mir-Sitzen, während ich an den Mathematikhausaufgaben verzweifelte, sein Fürsprechen, wenn ich meinen Eltern eine Freundin vorstellte, oder die Präsentation von kindgerechten Schlafliedern. Stattdessen hatte ich einen Vater, der nach einem Arbeitstag schmutzbesudelt heimkam, den Kopf neben einen dampfenden Teller legte und daraufhin in einen Schlaf fiel, den er nicht mehr zu unterbrechen schien.
Mein Vater war ein mental einfacher Mann, einer, der mal ein Mädchen geschwängert hatte und dann bei ihr geblieben war, weil Gott das so wollte. Glücklich war er mit meiner Mutter nie wirklich, sofern ich das beurteilen kann. Er gestaltete mir zwar schöne Dinge mit seiner Heimwerkerkraft (ich erinnere mich da an eine selbstgebaute Skateboardrampe aus Schalbrettern), aber wenn ich mit meinem kleinen Brett über diese Rampe sauste und auf die Fresse flog, war er woanders. Gefühle waren wohl nicht so sein Ding, habe ich mir irgendwann eingestanden.
Wir saßen im Wohnzimmer. Er trug ein blaues Hemd mit Tendenz zur Farb- und Geschmacklosigkeit und offenherzigen Achselschweißflecken. «Erika hilft mir jetzt ab und zu im Haushalt.» Seine Stimme war etwas erkältungsbeseelt und brüchig, sie klang nach der Kombination aus viel Knäckebrot und wenig Mineralwasser. «Erika?» «Ja, Erika, weißt doch noch, die von gegenüber, ungefähr mein Alter.» «Die Frau von Günther?», versuchte ich die nachbarschaftlichen Verhältnisse meiner Kindheit zu rekapitulieren. «Richtig, aber Günther ist seit einem dreiviertel Jahr tot. Lungenkrebs. Starker Raucher.» Mein Vater war jemand, der sich an Fakten festhielt, das merkte man auch an diesem Satz. Er hatte sich eine Ideologie zusammengeschraubt, die aus Sachlichkeit und katholischer Mitläuferschaft bestand, den Ingredienzien der Egokapitulation.
Mein Vater hustete laut und ich hatte immensen Bock auf eine Zigarette, wusste aber, dass mein Vater Probleme mit meiner Raucherei hatte, und zollte dieser Skepsis Respekt. Und das, obwohl er früher selbst viel geraucht hatte. Ich erinnere mich an brechreizerregende Autofahrten Richtung Nordsee; ich saß hinten, leicht verschimmelnd auf der Rückbank eines alten Opels und vorne rauchten beide Elternteile, und es war heiß und ich hatte Kopfschmerzen und freute mich über jede Aschenbecherausleerpause. Der harte Raucher, der er mal war, war einem Mann gewichen, der wie jemand schaute, dem grad der Kehlkopf wegen dort ansässigem Krebs entfernt worden war, wenn er seinen Sohn mit Tabakwaren sah. Psychischer Druck, aber ich wusste nicht mal, ob mein Vater das bewusst machte, das mit den Blicken. Ich kannte ihn ja eigentlich als einen naiven Mann, der die Sachlichkeit der Dinge jeder Kontrollverlust verursachenden Gefühlsregung vorzog.
Ich versuchte, ein Gespräch zu gestalten. «Ok. Und die Erika kommt jetzt ab und zu vorbei und hilft dir beim Kochen, oder was?» Ich war ein wenig out of order , der Tag war bislang ein erdrückend eindrucksvoller gewesen, obwohl ich nur bei meiner Mutter zu Besuch war, und die Gefühllosigkeit meines Vaters und die daraus resultierende Oberflächlichkeit dieser Konversation raubten mir Nerv um Nerv. Wir unterhielten uns wie zwei alte Bekannte, die sich zufällig beim Bäcker oder Metzger getroffen haben und die sich zwar kennen, aber sonst keine näheren Bezüge zueinander aufwiesen. Aber wir waren doch Vater und Sohn und zwischen uns befand sich eine Leere, die jedes Mal, wenn ich diesem Mann begegnete, mein auf dem Boden der absoluten Tatsachen liegendes Herz verprügelte. Da schlug es dann schneller vor Aufregung, das dumme Herz, und schlug und schlug und wollte doch eigentlich synchron mit dem seinen schlagen, aber zu oft änderte sich der Takt aufs Unnachvollziehbarste. «Erika ist eine gute Frau, sie erinnert mich an deine Mutter.» Was war das denn jetzt für ein beschissener Satz? Meine Mutter lag im Pflegeheim, unfähig selbst Nahrung aufzunehmen, und mein gottesfürchtiger Vater ließ sich von einer Frau namens Erika sein Essen auftischen? Mir wurde schlecht, aus gutem Grund wurde mir einfach schlecht. «Ich geh mal Kaffee kochen», sagte ich und war froh, mal vier Minuten allein mit mir in der Küche zu verbringen. «Mach du mal», begleitete die Vaterstimme mein Vorhaben. «Weißt ja, wo alles steht. Hab nichts geändert, seit deine Mutter weg ist.» Ich fragte mich noch kurz, ob das Provokation oder Naivität war, wusste aber nach kurzer
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