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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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harmlos war. Nur eine zäh tickende Sekunde sah ich im alten Gesicht meines Vaters ein Kind, das neugierig in die Welt griff, das interessiert am Leben anderer soziale Fäden durch undurchschaubare Räume webte. Dann verschwand das Kind wieder in ihm und zurückblieb ein alter Mann, mehr Brüche als Konzepte sein Leben nennend.
    Mein Vater und ich hatten nie diese ernsthaften Gespräche, wie man sie aus gesunden Familien kannte. Nie hatten wir diese abschließenden Ganzkörperumarmungen, die uns als Familienmitglieder hätten kenntlich machen können. Es war immer nur Liebe auf Distanz. Beide hatten wir viel zu tun in unseren Leben und einander lieben war lediglich eine Nebensache, von der ich als Jugendlicher noch mutmaßte, dass sie entweder sinnlos war und gar nicht kam oder aber, dass sie einfach von selbst herbeiflog, ohne irgendein Zutun von einem von uns. Die Liebe aber erschien nicht, blieb versteckt. Ich hatte das akzeptiert und er auch.
    Er war einfach nur ein alter Mann, bei dem ich ab und an auf dem Sofa meiner Kindheit rumsaß und der mich einfach nicht überraschen konnte. Er wiederholte stets die gleichen Anekdoten, in seinem Leben geschah auch sonst nichts, was erzählenswert war, so sagte er immer, und ich glaubte ihm das. Die Wahrheit war traurig, aber eben wahr. Ein Monument war sie, diese Wahrheit, und mein Vater und ich hatten viel dafür getan, dass dieses Monument stabil blieb. Ein Denkmal der Trostlosigkeit, unfotogen sondergleichen und aus grauem Beton in die gute familiäre Stube gerammt.
    Regenwetter im Wohnzimmer. Herbstzeitlosbude mit immer minimaleren Gewinnmöglichkeiten. Wir redeten kleine Sätze, die nicht unter die Oberfläche des Gegenübersitzenden dringen konnten. Die Sätze waren zu klein, waren kleine Buchstabengemische, die wir auf die Reise schickten ins bröckelnde Verständnis des jeweils anderen. Alles mehr süß als ernstzunehmend, mehr rauchschwadend schadenlos fließend als Substanz vermittelnd. So ging sie dahin, die Unterhaltung.
    Und irgendwann entschied ich mich zu gehen, einfach zu gehen, diesen Raum zu verlassen, diesen Mann, bei dem Teile meiner spaltbaren Liebe wohnten, zu verlassen, eine Tür zu schließen, die ich schon so oft geschlossen hatte und doch immer, immer wieder öffnen würde. Da war ich mir sicher.
    Hier war Liebe so selten wie Regen in der Wüste, aber wenn es mal leichten Nieselregen gab, stellte ich mich direkt hinein. In den schaudernd machenden Schauer ohne Schirm. Mein Vater konnte es regnen lassen, es gab einige wenige Momente, in denen Liebe aus ihm glitt und ihm keine Regung peinlich war, aber darauf musste man meistens lange warten. Mein Vater war schon immer wie ein Stein in seiner Präsenz gewesen, da, wo er hingerollt wurde, da blieb er, und er strahlte Konstanz und eine gewisse Härte aus. Ich hingegen war in meiner Kindheit und Jugend und auch jetzt als junger Mann wie ein frisch gelegtes Hühnerei, von einer zerbrechlichen Hülle umgeben, ständig auf der Flucht vor der Härte, was mein Leben derart beschleunigte, dass meine Emotionen teilweise Porsche fuhren, während meine Persönlichkeitsentwicklung weiterhin auf einem Fahrrad unterwegs war. Und ich kannte die Wahrheit, denn ich wusste: Eier sollten nicht mit Steinen tanzen.
    Ich ging also, verließ noch mal dieses Elternhaus, was ich schon sehr oft und in immer schweigenderer Schlepptrauer getan hatte, ein Elternhaus, in dem nur noch mein Vater in seiner Rustikalwelt überlebte, weil es ihm dort gutging. Er passte bestens in dieses Sofa. Sofa, so good. Ich würde gern diese Erika mal kennenlernen, sagte ich ihm noch, als ich ging, und er nickte und gab mir die Hand, wie nach einem abgeschlossenen Geschäft, und ich fühlte mich wie ein entgleister Zug mit unzähligen verreisenden Gedanken, die alle keinen Anschluss mehr an die Realität bekommen würden. Wir hatten uns fast jeden Körperkontakt abgewöhnt. Handschlag. Feierabend. Abgang Sohn. Ausbleibender Applaus. Eine Geschichte, die jeden Rahmen sprengte und trotzdem unerzählbar blieb.
    ***
    Als ich dann einige Tage später mit von Kundengesprächsfetzen vollgepesteten Ohren (... was macht der Stuckrad-Barre eigentlich heute? ... in welchem essentiellen Umstand liegt eigentlich der Unterschied zwischen Pop- und Trashliteratur begründet? ... war dieser Nietzsche eigentlich ein Homosexueller?) und schwerem Körper das Treppenhaus hochhastete, hörte ich wieder liebliche Klaviermelodiebögen durch die Atmosphäre gleiten. Ein

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