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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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als Zeuge ihres Dialogs ein wenig Angst vor dem Ausbruch ebenjener Gewalt bekam. Der dicke Pubertierende trug erneut einen blauen Adidas-Trainingsanzug und sein rottweilerartiger monströser Kopf kläffte seine Dudes an. «Ey, die Alte kann was erleben, ey, die is jetzt mit Maurice zusammen, ey, der schwule Maurice.» Blut schoss dem fetten Kind vor Aufregung in den Kopf und malte da ein Bild der körperlichen Anstrengung durch seelische Auslöser. «Ich mach die beiden kalt, ey, kaputt, ich box die in Patientenstatus.» Seine Wut hatte also über Monate ihren Platz in seinem ausdruckslosen Körper gefunden. Sein Kumpel, der letztes Mal noch dagegen war, auf ein Mädchen loszugehen, und der eine viel zu große Mütze auf einem viel zu kindlichen Kopf trug, formte aus Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand eine Pistole, aus der er imaginäre Munition abfeuerte. «Bin ich bei», sagte er nur kurz, und auch der Araber im No-Name-Outfit, der immer noch lebensgefährlich dünn wirkte, nickte nur kurz und starrte dann aus dem Busfenster. Man erkannte, dass er nicht glücklich war über diese Gedanken, aber auch, dass er menschlicher Wärme bedurfte.
    Der verpickelte Adidas-Adipositas-Junge hielt sich dann noch mit Erzählungen auf, wie man kleinen Mädchen am besten die Arme bräche, die Hebelwirkung sei dabei von entscheidender Bedeutung, und sein kleiner Nike-Freund war eher der Anhänger von Fausthieben, «auf die Fresse», die da Löcher und Blutpfützen hinterlassen sollten. Ich fühlte mich beim Zugucken und Zuhören, als hielte ich mich in einem surrealen Comic mit drogenverseuchten Protagonisten auf, denen geringe Anlässe zur völligen Vernichtung von Umfeld und darin befindlichen Menschen genügte.
    Ich fragte mich in Bezug auf den dicken Jungen eigentlich nur, wie man ein so fettes Herz eigentlich brechen konnte, und ob die Anwendung eines Pürierstabes nicht vielleicht viel sinnvoller wäre. Außerdem dachte ich darüber nach, ob und wie diese Kids imstande wären, ihre explosiven Gefühle irgendwann zu ordnen und einem System zuzuführen, das sie dazu bemächtigte, Gewalt abzulehnen. Ich hoffte es für sie und blickte versonnen aus dem Fenster und sah neben dem Bus ein dickes Mädchen auf einem BMX-Fahrrad strampeln. Das strammwadige Ding wirkte, als ob es unter sich überhaupt kein Fahrrad beherberge, sondern lediglich vorn und hinten diese typischen BMX-Reifen hatte, die der Mettwurstprinzessin überhaupt erst die notwendige Stabilität gaben. Sie radelte aber auf eine Weise, als wäre sie mit sportlichem Ehrgeiz und Kondition ausgestattet. Von oben sah man lediglich die ausladende Straffheit ihrer Bewegungen, die sie nach vorne trieben. Der Bus überholte sie langsam und verringerte sein Tempo.
    Wir fuhren gerade auf eine Bushaltestelle zu und plötzlich waren die Gewaltfantasten sehr aufgeregt. «Da isse ja, die Bitch», sagte der dicke Typ und sein Kopf bewegte sich langsam hin und her, wie ein Medizinball beim Seniorensport. Er deutete auf das korpulente, aber rotierende Mädchen, als wäre er ein Seemann an Deck eines Segelschiffes und hätte nun zum ersten Mal seit hundertachtzig Tagen wieder Land gesehen. Vor Aufregung begannen seine Fettpolster ein Eigenleben, und es sah aus, als wolle sein Körper in alle Richtungen gleichzeitig aufstehen und der Kopf müsse erst noch die Bewegung koordinieren, um ein kontrolliertes Aufrichten zu gewährleisten. Die anderen beiden schauten auch hinaus, genauso wie ich, das dicke Mädchen hatte ordentlich zu treten, sie wirkte wie eine gut geölte Maschine, ein plumper Motorblock, der konstant und konsequent auf hohen Touren drehte.
    Es gibt Opfer und es gibt Täter, musste ich abschließend noch denken, und die Rollenverteilung war hier schon klar, bevor die Jungs ausgestiegen waren, um dem Mädchen etwas anzutun, was für gewöhnlich Leute tun, die mit Fleischbeilchen und Inbrunst Metzgereiauslagen bestücken. Wäre dieser Ausbruch eine Musikrichtung, es wäre Grindcore, hätte kein spezifisches Intro und man hätte nur sägende Gitarren, die die Gesamtstimmung verdichtend beschrieben, und eine Snaredrum gehört, die schnelle Schläge und Tritte symbolisiert hätte, und die Angst des Mädchens und diese nassen Augen, die zunächst von Überraschung und dann vom Schmerz und dann von opfergleicher Gleichgültigkeit gezeichnet waren, diese Attribute kämen gar nicht vor in diesem Lied, genauso wenig wie das Fahrrad, das da noch lag, das kleine Fahrrad, der

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