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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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Schwulsein, und ich wusste, dass wir da was vorhatten, was sich in meinen Lebenslauf einkerben würde. Aus der Ferne klangen Kirchenglocken als Appell an unsere verkommene Moral. Die Glocken kamen mir aber vor wie ein Soundtrack, der jetzt hier einfach hingehörte, als Untermalung der Faszination, die sich uns durch unsere kleinen, jugendlichen Körper offenbarte.
    Ich versuchte mich an Techniken zu erinnern, die ich in diversen Pornofilmen gesehen hatte, und wollte gern, dass es schnell geht. Ich erinnerte mich aber an nichts Konkretes, nur an aufgedunsene Lippen von Frauen in viel zu engen und viel zu wenigen Anziehsachen, die spermabenetzt dumm lächelten. Ich hatte vor Aufregung eine Erektion, die ich aber jetzt nicht bewerten konnte, die war halt da, nicht wirklich heftig, aber spürbar. Schmidt stand vor mir, rauchte und hatte in der Nichtraucherhand eine Weinflasche. Ich kniete vor ihm. Wir waren allein. Diese Wiese war unser würdevolles Schlafzimmer. Der ausklingende Sommer zeichnete ein weiches Licht um uns. Ich war glücklich. Sein Penis war so groß wie eine Weintraube und schmeckte bitter ...
    Später lagen wir im Gras, Kopf an Kopf, und guckten Sterne. Die Sterne guckten freundlich zurück, und ich konnte mir einen Begriff von Romantik machen. Die Teelichter waren ausgebrannt, die heißen runden Metallschalen hatten schwarze Kreise ins Gras gezeichnet. Ich hatte Schmidt leergesaugt. Es hatte vielleicht zwei Minuten gedauert, bis die Weintraube übergesprudelt war, aber diese Handlung war die Schweißnaht zwischen zwei jungen Menschen, die immer noch orientierungslos durch ihr Leben irrten, aber immerhin von einer Radikalität beseelt waren. Wir lagen da wie abgestürzte Hochseilartisten, ja Hochseiltautisten, unfähig uns der Situation mit Worten zu stellen, um nicht die Schönheit des Augenblicks mit Worten zu zerstören.
    Irgendwann stand Schmidt auf. «Komm, lass uns tanzen gehen.» Er war wieder der alte, getriebene Punkrocker, die Romantik war wie weggeblasen, doch das Leben wirkte wie ein rundgelutschtes Bonbon, wunderschön und wohlschmeckend. Ich sah, dass ihm die Freundschaft, die ich ihm schenkte, guttat, und das machte mich glücklich. Was in aller Welt hätte uns jetzt noch zerstören können?
    Der Sommer wurde Herbst und der dann wieder Winter, und Schmidt und ich machten immer so weiter, nur ohne Oralverkehr, das war eine einmalige Sache geblieben und deswegen so wunderbar besonders. Wir besuchten Konzerte, unseren Freitagsclub und wurden reifer, unsere Themen erwachsener. Unsere? Nein, eigentlich nur meine. Er machte so weiter, der Alkohol floss aus großen Flaschen in den kleinen Körper, bis dieser Funktionen verweigerte, und ich bemerkte, was ich nie hatte bemerken wollen, ich aber schon viel früher hätte bemerken können: Schmidt war auf einer intellektuellen Ebene stehen geblieben, die ich bereits unabsichtlich hinter mich gebracht hatte. Mein Musikgeschmack hatte sich erweitert, für ihn gab es weiterhin lediglich die Dead Kennedys , Metal und Deutschpunk, und wenn ich mit Bands wie Tocotronic oder den Sternen , oder auch deutschem Hip-Hop um die Ecke kam, wurde Schmidt böse garstig und verschrie mich als «stumpfdummes Weichei mit verrotteten Wurzeln», bevor er sich dann wieder irgendeine Alkohol tragende Flasche zwischen die Lippen setzte und trank, als wäre die Realität zu schmerzhaft, zu unmittelbar. Und um dann zum fünftausendsten Mal Kill the poor von den Dead Kennedys zu hören, dessen Text er immer noch falsch zitierte. Immer mehr distanzierte er sich von der Realität, das Arbeitsamt und dessen Vermittlungsversuche waren noch immer seine erklärtesten Feinde. Ich versuchte, ihm die Sinnhaftigkeit einer Berufsausbildung zu vermitteln, wurde aber stets dafür ausgelacht und als «Sklave des Systems der Dummen» abgestempelt.
    Ich bemerkte, dass das Leben doch nicht so funktionierte, die ewig gleichen Standpunkte, das fortwährende Abgleichen seiner eigenen Coolness, das war mir irgendwann zu dünn als Lebenskonzept. Darunter friert man doch, wenn man sich das als Egodecke auferlegt, dachte ich so bei mir, unter diesem Leben würde ich mich erkälten. Schmidt verstand das nicht, das war seine Grenze, die ich auch mit der uns eigenen Sprache nicht überwinden konnte. Schmidt blieb Schmidt und fand sich am allerrichtigsten. Ich dosierte dann irgendwann meinen Kontakt zu ihm, imaginierte, dass er vielleicht wach würde, wenn wir uns mal einige Wochen nicht sahen. Daher

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