Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
und ich spürte auch, dass ich mich jetzt gegen meine Mutter durchzusetzen hatte oder es würde nie klappen. Sie wusste ja nichts mehr von meinem Leben, wusste nicht, auf welche Musik ich stand und dass sich durchaus Menschen wie Schmidt in meinem Freundeskreis aufhielten. «Spinnst du jetzt völlig? Da draußen steht so’n Penner, der will dich abholen. Bist du verrückt? Mit dem Schmidt?», war dann auch ihre hysterisch gebrüllte Beschallung, als ich schweigend an ihr vorbei auf die Haustür zusteuerte, Schmidt mit einer für Männer untypischen Ganzkörperumarmung begrüßte und ihn sogar noch als Zusatzprovokation auf die Wange küsste. Schmidt und ich gingen einige Schritte Hand in Hand die Straße hinunter. Meine Mutter stand an der Türschwelle, über die ich gerade in ein eigenes Leben geschritten war, ihr gerade noch laut rufender Mund stand nun stumm offen. Ich hatte es geschafft, ich war so was wie erwachsen.
Nach und nach akzeptierte meine Mutter gezwungenermaßen meine immer intensiver werdende Freundschaft mit Schmidt. Sie war zwar immer noch sehr skeptisch, was den Kontakt zu meinem Punkerfreund betraf, aber sie spürte wohl auch, dass ich nicht mehr gewillt war, ihre Verbote so einfach und lapidar hinzunehmen. Sie spürte, was ich auch klar und immer kompromissloser ausstrahlte, dass sie den Kontakt zu mir verlieren würde, sofern sie versuchte, mir diesen Kontakt zu verbieten. Immerhin war ich siebzehn, also immer noch irgendwie richtungslos im Denken, aber ich hatte jemanden gefunden, der mich ernst, an die Hand und überall mit hinnahm. Schmidt, der großartigste Mensch dieser Zeit.
Bewaffnet mit Ausstrahlung und Intelligenz sowie endlos erscheinendem durstlöschendem Bier- und Weinvorrat lagen wir zunächst auf Frühlingswiesen, dann an Sommerseen und schließlich auch auf herbstlichen Terrassen. Zumindest glaubte ich, in uns Intelligenz zu erkennen, weil wir scheinbar in einer Art Seifenblase über dem Bevölkerungsrest zu schweben schienen. Wie behauptete man sich in einer Gesellschaft, die man intuitiv ablehnte, aber der gegenüber man auch nicht macht- und kraftlos sein wollte? Wir wussten es, unser Verhalten war das allerrichtigste, die Verweigerung des Alltags. Schmidt verweigerte den Alltag mehr als ich, weil mein Leben ja noch von der Struktur der Arbeitnehmerschaft gekennzeichnet war. Aber diese Momente, die Stunden mit Schmidt, das miteinander, aufeinander Rumhängen, das war eine Behauptung, die wie die Gesellschaft selbst funktionierte. Wir fühlten den Kontrast und das war eben Intelligenz.
Das uns geschenkte Leben wurde nur durch meine täglichen Gänge zur Arbeit und Schmidts Versuche, seine Wohlschaffenheitsallergie abzulegen, geprägt. Er verbrachte einige Vormittage in Arbeitsämtern, nur um dann am Abend zu verlautbaren, dass ihn niemals jemand versklaven könne. Ich fühlte mich klein daneben, ich war ja in der Sklaverei der Lohnarbeit gefangen, aber es hatte den Sinn, mich aus dem Haushalt meiner Erzeuger zu befreien. Schmidt verstand das, und ich war glücklich darüber.
Er hingegen hatte auch viel Stress in seinem Elternhaus, er wurde viel von seinem überalkoholisierten Vater geschlagen, was seine Mutter, ebenfalls ewig trunken, als sie noch lebte, toleriert hatte. Als Schmidt dann irgendwann zurückschlug, wich der Vater mit seinen Gewaltanwandlungen auf die jüngeren Geschwister Schmidts aus und Schmidt wurde fortan in Ruhe gelassen, musste aber all das ertragen, in seinen jungen Jahren. Die frühkindliche Gewalterfahrung und die Unberechenbarkeit seines Lebens, irgendwann einfach in eine extra für ihn geballte Faust oder Schlimmeres zu laufen, das gab ihm eine gewisse Welterfahrung und eine abstrakte Abgefucktheit, deretwegen ich ihn bewunderte.
Wir vertrödelten unsere junge und gut aussehende, aber immer Perspektiven scheue Jugend mit vielerlei selbsterfundener, obskurer Freizeit. Eines Abends gründeten wir beispielsweise eine imaginäre Band zwischen zwei Weinflaschen der Sorte Lambrusco. Während die Flasche zwischen uns zirkulierte und dabei unsere Kreativität befeuerte, wurden unsere Fantasien immer waghalsiger. Wir hingegen wurden immer betrunkener, die imaginäre Band, die übrigens den Namen Der Hund beißt nicht, der amputiert sofort!!! tragen sollte, wurde immer konkreter. In unseren Ausführungen waren wir Menschen, die fähig waren, beherrschende Systeme mittels unkontrollierter Musik zu zerstören.
Schmidt war eine verbale Abrissbirne, eine
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