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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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langjähriger Gefangener aussahen, eingeknastet von der Freiheit höchstpersönlich, die dir den Fitnessclub, den Bausparvertrag und das Automobilleasing ermöglicht, und es gibt Leute, die das tatsächlich für Freiheit halten. Für mich war Freiheit immer der Gedankenansatz, mehrere Stunden am Tag still dasitzen zu dürfen, ohne ein Fremdgeräusch, ohne ein Telefonklingeln, ohne E-Mail-Antwortzwang. Ich wusste nicht, ob ich so was überhaupt noch konnte.
    Die Müdigkeit wurde gröber zu mir, sie zerrte mich an sich, und ich war der unangenehmen Auffassung, noch weiterdenken zu müssen; ich glaube, hätte ich noch weitergedacht in dieser Nacht, ich wäre aus einem Fenster gesprungen oder hätte das Geheimnis der menschlichen Existenz ergründet. Nicht den Sinn des Lebens, der ändert sich zu schnell, aber es gibt Mysterien, die man mit Gedanken nur umschlingen kann. Ich wollte weiter, aber der Schlaf holte mich zu sich, warf einen niederträchtigen Traum auf mich und entließ mich am nächsten Morgen unausgeglichener denn je. Irgendwas musste passieren ...
    ***
    Zwei Tage später wollte ich meinen Vater besuchen, nicht aus einem wirklichen Willen heraus, sondern eher aus dem inneren Zwang, diesem Menschen in seiner manchmal schier unerträglichen Stumpfheit beizuwohnen. Ja, Beiwohnen ist dafür ein schöner Begriff, ein richtiges Miteinander gab es da nie so wirklich mit meinem Vater. Ich hatte aber das unbestimmte Gefühl, dass die ohnehin schon sehr rissigen und spröden Kontaktstränge sich weiter verdünnisierten, wenn ich ihm nicht ab und zu unter die Augen trat. Jemandem unter die Augen treten, jemandem aus den Augen gehen, aus den Augen und aus dem Sinn sein, das sind extrem harte Begrifflichkeiten, die ich trotz der durch mein Leben mitgeschleppten Beziehungsarmut mit meinem Vater nicht haben wollte. Ich war sein Sohn, ich wollte es bleiben, und mich vor allem so fühlen, trotz all dieser Umstände, die mich manchmal in die Nähe der Verzweiflung trieben, trotz der grauen Stimmung, die hier herrschte.
    Eine Frau öffnete die Tür. Erika. Er hatte ja von ihr erzählt, und ich glaubte schon, dass sie sein Leben bereicherte, aber sie hier als Türöffnerin vor mir zu sehen, erschreckte mich doch ein wenig. Sie wirkte wie eine gut genährte Bauersfrau, die versuchte durch modische Accessoires, wie ein völlig deplatziertes weißes Halstuch, ihre bäuerliche Herkunft zu verleugnen. Dazu trug sie eine blaue Stoffhose und eine graue Bluse, und das um ihren Hals gelegte weiße Teil rieb sich an ihrem geröteten Doppelkinn. «Ach hallo», sagte sie sanft zwitschernd in einem Bäckereifachverkäuferinnenton, rammte sich ein lächerliches und unsicheres Lächeln ins Gesicht und reichte mir die Hand wie die Fremde, die sie ja nun mal für mich war. Ich erkannte sie aber, sie war ja lange Jahre meine Nachbarin gewesen, und auch ich versuchte, ein wenig Freundlichkeit in meinen Ausdruck zu legen, was mir aber nur bedingt gelang. «Dein Vater ist im Wohnzimmer.» Sie ging voran, ich schloss zögernd ohne unnötige Geräusche zu verursachen die Haustür und folgte ihr.
    Ich hatte plötzlich ein Gefühl der Fremdheit, die fremde Frau im Haus meiner Kindheit machte dieses Gefühl. Ich fühlte mich verloren, denn da lief eine Frau, die anscheinend die Rolle meiner Mutter zu übernehmen gedachte, wie selbstverständlich durch die Räume. Kindheitserinnerungen kamen auf, solche, die man nur hat, wenn man durch das Haus geht, in dem man aufgewachsen ist. Mein Vater saß im Wohnzimmer und hatte gute Laune, als ich in sein Blickfeld trat. Er saß auf dem alten Sofa, auf seinem angestammten Platz und schaute mich mit freundlichen Augen an. Dann machte er etwas, was diese Situation besonders machte, nämlich den Fernseher aus. Und mit einer durch sein Gesicht sichtbaren quälenden Bewegung stand er auf, rückte an seiner Hornbrille und kam zwei Schritte auf mich zu. Irgendetwas Gutherziges leuchtete da in seinem Blick, sein Gesicht war von ausdrucksstarker Freude bewohnt. Zunächst gab er mir die Hand, kam dann aber noch näher an mich heran und durchbrach die Distanz, diese tausendjährige, immer schon bestehende Differenz mit einer angedeuteten Umarmung. «Hallo Junge», sagte er sanft, war dabei ganz nah an meinem Ohr, und ich spürte allein durch die Farbe dieser beiden gesprochenen Worte, dass er sich freute, wirklich freute, mich zu sehen. Das war wunderbar, ich lächelte und machte die Umarmung etwas fester, wollte diesen

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