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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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mir mit offenem Gesicht und sagte so was wie: «Bedank dich bei der Absurdität des Lebens und jetzt: heul endlich, du scheiß Emo ...» Ja, meine Sensibilität war eine harte Sau. Der Szene wurde geschmacklose Vergänglichkeit beigemengt, wie so vielen Szenen meines Lebens. Immer ist da was und das ist gut, und dann geht das weg und ich steh da und kann nicht mit.
    Da war sie wieder, diese Vergänglichkeit. Sie war wie ein Heckenschütze, der in vielen Worten und Sätzen agierte, der sich hinter kleinen Sinnzusammenhängen verschanzte, um dann aus einem freudestrahlenden Gesicht wie dem von Kai in meins zu springen und mich frontal anzugreifen. Ich trank mehr Bier und rauchte eine. Das tat gut. Zurückgelehnt zu rauchen. Irgendwas in der Hand oder im Mund zu haben, ganz dumm basal zu leben, ohne tiefere Sinnzusammenhänge agieren. Rauchen. Gucken. Sein.
    Nebenbei lief echt passende und vor allem coole Elektromusik. Frittenbude . «... das ist Kunst, mindestens in tausend Jahren, du summst mindestens eintausend Mal, mit uns oder allein, das ist Kunst, oh nein, oh nein, oh nein ...» Ich fand es cool, eine Band zu kennen, die Frittenbude heißt und trotzdem nicht von Belanglosigkeiten singt, sondern großartigen Kunstpop produzierte. Ich mochte Kais vielseitigen Musikgeschmack, aber ich hasste gerade seine unsensible Art, mir sein baldiges Verschwundensein anzukündigen. Mindestens in tausend Jahren würde auch Kai dann Kunst sein, als klassischer Komponist, als Zeitgeisteinfänger der sogenannten Zweinullerjahre. «Thematisch bist du natürlich damit vollständig auf der Höhe, aber das hab ich dir ja schon ein paar Mal gesagt.» Kai nickte selbstzufrieden. Er wusste um sein Talent, er wusste auch, dass es aus seinem Leid wuchs und aus seiner Wahrnehmung in diese Welt zu springen gedachte, und das war für ihn ein freudiges Ereignis. «Bock auf’n Schnaps?», schwadronierte er in den Raum. «Lass uns den Abend beschleunigen, Alter.» Beschleunigung? Ja, das klang gut, ich hatte schon so lange das Gefühl, ständig überholt zu werden von Gegenständen, Gefühlen, Menschen, Verständnis und Wissen. «Klar, was hast denn da?» Kai ging in seine Küche, wo ich Flaschen- und Gläsergeklapper vernahm. «Tequila, Gin, Wodka, Rum und so’n komischen Erdbeerlikör.» «Lass uns mal mit ’nem Tequila anfangen», gab ich mich staatsmännisch und alkoholerfahren. «Tequila in me is Tequila in you», raunzte Kai aus der Küche zurück und kam eine Minute später mit zwei großen Schnapsgläsern, einer Tequilaflasche, einer Zitrone und einem Salzstreuer zurück. Ich bemerkte zwar die Vergänglichkeit in all diesen Momenten, alle Sekunden, die vorbeitickten, würde ich nie wieder aufsammeln können, aber ebenso registrierte ich die Wichtigkeit des aktiven Erlebens dieser Augenblicke. Ich wollte in jede Sekunde eintauchen, sie aussaugen, obwohl es nur um das Trinken alkoholhaltiger Launespender ging, aber das war jetzt wichtig.
    «Aller, scheiß aufs Ritual», lallte Kai nach den ersten acht Tequilas im Sturzflug. Wir fühlten uns wie die jugendlichen Kinder, die wir beide eigentlich waren, und der Alkohol entwickelte eine intensive Eigendynamik. Bei Tequila neun bis zwölf ließen wir also das Salz und die Zitronenscheiben weg und die Beschleunigung des Abends war vollzogen. Der Abend rasantete in grober Gestalt über einen viel zu brüchigen Zeitstrahl und vor allem über uns viel zu sensible Charaktere. Kais Handy lag auf dem Tisch und plötzlich zuckte es fanatisch und leuchtete ihm einen Anruf ins Haus. Wir hatten gerade die Flasche Rum aufgemacht, die wir mit alter, aber noch trinkbarer Cola mischten. «Yo?» Selbst am Telefon war Kai von extravaganter Coolness. «Alles klar», sagte er dann drei Sekunden später und dann zu mir gewandt: «Da kommen noch zwei.» Dann klingelte es auch schon an der Tür und im Radio lief Olafur Arnalds. Das war auch so Neoklassik, ganz zärtliche Klaviermusik, die ganz sanft mit ganz wenigen Ausbrüchen bestückt durch Kais Wohnzimmer wallte. Kai ging zur Tür, und als er sie aufmachte, brach ein weibliches Stimmengewirr auf ihn ein.
    Dann betrat er wieder den Raum und hinter ihm tauchten zwei Frauen auf. Beide lachten in stimmlicher Schräglage, als wären sie auch schon so alkoholisiert wie wir. Es war diese Mischung aus mädchenhaftem Gekichere und dem Attentat, das ein handfester Vollrausch auf ein gewöhnliches Frauenbewusstsein ausüben kann.
    Die eine stellte sich als Sarah vor.

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