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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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waren, war mir in jedem Augenblick bewusst. Momente waren irgendwann da und konnten schneller wieder verschwinden, wie man «Freut euch, nicht ich sein zu müssen» sagen konnte.
    Kai legte weitere Musik auf, irgendwas, was ich nicht kannte und aus komischen Beats und weiblichem Gesang bestand. Ich erinnerte mich an einen Begriff namens Vocalhouse, das hier schien so was zu sein. Die alkoholgedopten Kommunikationsbruchstücke, die aus uns allen rauskamen, erhellten diesen Abend auf eine sonderbare Weise. Ab und zu schaute Caro mich an, auf eine seltsame Art legte sie ihre Augen auf mich, und ich wurde trotz grandioser Besoffenheit ein wenig unsicher darüber. Sie rauchte viel, ich auch, eigentlich rauchten wir alle wie die Industrieschornsteine im Ruhrpott zur Wirtschaftswunderzeit. Auch der Alkohol floss weiter in einer Konstanz, die uns alle aber eher mental antrieb, als uns kommunikativ zu behindern.
    Der Abend floss dahin wie ein breiter Fluss, in dem nur besoffene Fische schwammen, orientierungslos und die volle Breite aller möglichen Wege durch trübe Gewässer ausnutzend. Kai unterhielt sich schon seit einer Viertelstunde mit Sarah über irgendwelche Achtelnoten, ich versuchte diesem fachlichen Gelaber nahe zu bleiben, aber es interessiert mich nicht, woraus Musik gemacht wird, sondern lediglich, wie sie klingt. Daher verlor ich schnell das Interesse an diesem Zwiegespräch. Auch Caro drehte sich weg, und plötzlich zwischen zwei Schlucken aus dem Longdrinkglas (in dem ich mittlerweile den Tequila mit Orangensaft verschönert hatte) und zwei Zügen an der Filterzigarette befand ich mich mit Caro in einem gefühlsbetonten Gespräch.
    Ich erzählte ihr von der Lage meiner Mutter und von den sozialen Kompetenzen, die ich seit Kurzem bei meinem Vater vermutete. Es tat gut, das einer komplett fremden Person zu erzählen, obwohl sich so langsam aber sicher eine zarte Vertrautheit zwischen Caro und mir einstellte. Wir saßen nebeneinander auf Kais Sofa und erzählten uns Problemgeschichten zum Soundtrack vocalhousiger Songungetümer. Ich bemerkte die Musik aber nur in den kleinen Denkpausen, die ab und zu entstanden, weil wir beide trotz mittlerweile immenser Besoffenheit unsere Gefühlsleben präsentieren wollten. Caro erzählte von ihrer schwierigen Mutter, die wohl selbst psychisch krank war und damit die ganze Familie entweder auch in diverse Krankheitsbilder oder sogar in stationäre Psychiatriebehandlungen getrieben hatte. «Also, es ist schlimm, das Kind einer Mutter zu sein, die selbst ein Kind ist», sagte sie irgendwann zwischen einem der wundervollsten Augenaufschläge, die ich jemals gesehen habe, und einem Zug an der Filterzigarette. Was für ein Satz. Für diesen einen Satz, der auch mein Leben beschrieb, hätte ich gern ihren Mund geküsst, einfach so, aber eine Angst, bestehend aus Vernunft und Geduld, ließ das nicht zu.
    Ich schob es auf meinen Alkoholspiegel, dass ich gerade dabei war, mich in Caro zu verlieben. Nach so wenigen Worten, so wenigen Blicken kann doch so was gar nicht möglich sein, dachte ich so bei mir, und sie erzählte weiter, war mir irgendwie auf dem Sofa noch ein Stück näher gekommen. Die Intimität steigerte sich, als Caro begann, von eigenen Therapieerfahrungen zu berichten. «Meine Mutter hat vor ungefähr einem Jahr gesagt, dass ich nur simuliere mit meinen abseitigen Schlechtgefühlen zur Welt und doch lieber den Therapieplatz für jemanden bereitstellen solle, der wirkliche Probleme hat. Und vor drei Wochen hat sie mir erzählt, ich solle da mal umdenken und den Therapieplatz frei machen für jemanden, dem wirklich zu helfen sei.» Sie lächelte dabei so zuversichtlich, dass ich kaum mehr anders konnte und ihre kleine Hand anfasste, mit der sie gerade noch so unfassbar schön ihre Artikulation als Geste in den Raum gemalt hatte. Caro lächelte, wirkte ein wenig unsicher, wie ein Kind, dem ein Angebot gemacht wurde, das seine Entscheidungskompetenzen überstieg; in etwa war ihr Blick der Ausdruck eines Dreijährigen, den man fragt: «Alter, hast du Lust, in 35 Jahren an einer Weltraumexpedition teilzunehmen?» Ich zog meine Hand wieder weg, ganz langsam, weil ich ihre Unsicherheit spürte, was denn jetzt wohl meine Hand auf ihrer sollte. Aber meine Hand glitt von ihrer herab, als wäre Zärtlichkeit Selbstverständlichkeit. Sie lächelte, versuchte aber nicht, meine Hand vom Verschwinden abzuhalten.
    Kai und Sarah bekamen von all dem nichts mit, sie unterhielten sich

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