Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
ganzer Körper mit Tränen füllte, die allerdings weder an den Augen noch sonst wo austreten konnten. Ein trauriger Druck in mir, der mich lähmte, der mich hinderte, weiter irgendwas zu fühlen.
In dieser Zwischenstimmung berührte eine fremde Hand die meine und an dieser Hand befand sich die komplette Caro. Sie war nackt und leuchtete und hatte ein Lächeln aufgesetzt, das mich zu kompromisslosem Frohsinn einlud. Ihre Gestalt, so greifbar, so einladend rund, der Mund so mystisch, trotz ihrer Nacktheit wirkte Caro sehr festlich. Ihre Tattoos wirkten wie natürliche Körperteile. Ich aber war jemand, der nicht einfach so imstande war umzuschalten. Ich erzählte ihr, was gerade passiert war, dass da dieses Bett hochgeflogen sei, darin meine Mutter, und Caro umarmte mich, aber ich löste mich wieder aus der vorgetäuschten Harmonie dieser Fangarme und suchte den Frühlingshimmel nach einem fliegenden Pflegebett ab, fand aber nichts außer zwitschernden Vögeln, wonneproppigen Wolkengebilden und leise zirpenden Insektengestalten. Caro war dann nicht mehr da, als ich meinen Blick wieder senkte, und ich geriet in Panik und brüllte ihren Namen und suchte wieder den Himmel ab und fand nichts außer Frühling, und als letzte Traumsequenz sah ich mich aus der Hubschrauberperspektive, wie ich mit nach oben gestreckten Armen laut nach meiner Mutter rief. Ich fühlte Scham wegen des Bildes, das ich hier augenscheinlich abgab, hatte ich mir doch selbst so viel Reife zugemutet, nicht wie ein heulender Dreijähriger abzuhängen, der nach dem Verlassenwerden von der Mutter in derartige Hysterieanfälle verfiel. Die Figur, die ich war, und der Zorn dieser Figur, das unausgelebte Wahnsinnige, stimmten mich bei der Betrachtung traurig. Das war ich, ein jammerlappiges Ding, inmitten praller Schönheit, aber unfähig diese wahrzunehmen, weil eine kleine Entfremdung stattfand. Je mehr ich mich aber von mir selbst entfernte und emporflog und je kleiner der wurde, der ich war und den ich verlassen hatte, desto deutlicher fühlte ich mich wärmer. Ich war zwar allein auf der Wiese, aber die Nähe der Unmittelbarkeit dieser in Subtilität getränkten Ereignisse ließen einen leichten Wahn aufkommen. Ich hatte mich zurückgelassen wie einen angeschossenen Soldaten, der nur noch die schnelle Flucht der gesamten Truppe behindert hätte. Lediglich Ballast, und ich flog und schlief dann doch noch einen relativ gerechten und tiefen Schlaf.
Beim Kaffee, den wir unter warm gekuschelter Decke im Bett einnahmen, erzählte ich ihr von diesem Traum. Nachdem ich meine Erzählungen beendet hatte, war es still, und ich sah, wie in Caro etwas passierte, ein Denkprozess ihren Kopf überfiel und sie dann, nach fast zwei Minuten Schweigen, ein leises und langsam schleppendes Sprechen begann. Ihre Ehrlichkeit schockierte mich. «Ich bin keine gute Traumanalysiererin, aber das hier bewegt. Ganz ehrlich, pass auf. Du wartest auf den Tod deiner Mutter.» Caro sagte diesen Satz wie ein gefühlsunterdosierter Kriegsveteran, der seinerseits schon so viel Blut und Kotze schauen musste, dass ihn das Elend und die Abgefucktheit der Nachkriegswelt gar nicht mehr schockieren konnte, und er es in angepasster Kälte kommentieren konnte. Im ersten Augenblick, nachdem diese Worte meinen Kopf erreicht und anschließend auf meine Herzmuskulatur gedrückt hatten, hätte ich Caro am liebsten gepackt und in die Ecke geschleudert, dann aber kam bruchstückartig die Erkenntnis in mich, dass sie einfach recht hatte. Ja, das war, worauf ich wartete, das Ableben meiner Mutter, und verdammt noch mal, ich hatte eine Freundin, die genau das erkannt hatte. Ich sagte trotzdem: «Is mir zu hart, deine Ansicht, obwohl da was dran ist», und Caro lächelte, als ob sie wusste, was in mir los war, und auch ich lächelte und wir tranken Kaffee und ließen den Morgen sanft vorbeigleiten. Wir hatten eine formschöne Art der Diplomatie erfunden, und ich verliebte mich in diese Art der Subtilität. Und in Caro, die doch näher an mir war, als ich gedacht hatte. Ich hatte geglaubt dieser Platz neben meinem Herzen, der wäre eine atomar verseuchte, unbetretbare Gegend geworden, aber Caro traute sich ohne Schutzanzug in die Nähe meines Herzreaktors ...
***
Es war ein weiterer Sonntag und der braune Teppich und die Drehtür und alles, was sonst schon wie immer war, war auch an diesem Tag wie immer. Draußen glänzte die Luft und hier drinnen waren wieder die mobilen Senioren und atmeten wie
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