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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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einem mindestens vierwöchigen Jahresurlaub ohne Denken und Fühlen zu sehen. Die Frustration in beiden Blicken traf dann den meinen, immer noch leicht erschrocken vor sich hin starrenden, und dann wurde es professionell freundlich. «Sie sind der Sohn, nicht wahr?» Die ältere Frau übernahm das Sprechen, ihre Stimme klang nach zu vielen aus Frust gerauchten Zigaretten. Das junge Mädchen stand etwas verschüchtert daneben und grinste dabei, als ob ihr Gesicht ein Aufkleber wäre, der für gute Laune, gemischt mit Kritikunfähigkeit warb.
    Dann sprach die Pflegefrau ein paar Worte über Ellenbogen-, Knie und Knöcheldekubiti und wie da zu verfahren sei. Sie sprach über meine Mutter, als wäre sie eine Übungspuppe für die Seniorenpflege, und ihr Mitgefühl im gespielten Leidensblick war so unecht wie das Mitgefühl einer Frau Overberg, und ich hatte plötzlich große Lust, einfach umzufallen und traurig zu werden. Die Krankheit meiner Mutter, ihr baldiges Ende. All diese konkreten Tatsachen wurden hier hinter einer Wand aus fachlichen Bezügen thematisiert. Die Wahrheit war aber eine in Todesnähe liegende Frau, die Schwierigkeiten mit der Atmung und mit der Aufrechterhaltung ihres Lebens hatte. So lag sie vor uns allen, meine Mutter.
    Weil ich nicht einfach so in Tränen ausbrechen wollte, lächelte ich also, lächelte mich für einen Moment schmerzarm und tat, als wäre die Welt eine gerechte und mein Schicksal ein annehmbares. Ich lächelte also und die beiden Frauen lächelten zurück, offenbar der Ansicht, einen guten Job verrichtet zu haben. Sie packten Verbände und Salben in ihre Pflegetaschen, lächelten weiter, als ob dies der einzige Gesichtsausdruck wäre, der noch funktionierte, um sich der Realität zu stellen. Sie ließen mich dann mit meiner mir zugewandten, auf der Seite liegenden Mutter allein und hinterließen einen Desinfektionsmittelduft, der schwer und chemisch im Zimmer hing.
    Da lag sie. Sie hatten ihr Gesicht in Richtung Tür gedreht. Aktive, selbstgesteuerte Bewegungen waren nicht mehr möglich. Ihr Körper wirkte wie eine zerknitterte Decke, die nicht mehr gegen Kälte schützt. Sie starrte ins Nichts, und das Nichts starrte seinerseits zurück und umfing somit die Szene der Unmöglichkeit, etwas zu werden außer tot. Ich stand regungslos vor meiner Mutter und versuchte, mich an einem konkreten Gedanken festzuhalten. Aber alle meine Gedankenmuster rasten wieder wie Schnellzüge durch meinen Kopf. Dann bremste schließlich ein Gedanke abrupt ab, ich hörte ihn quietschen, den kleinen Gedanken, der sich aufdrängte, mir Wahrheit einzuhauchen; ich spürte, wie er langsamer wurde, wie ich langsamer wurde dabei und der Gedankenzug zischend seine Türen aufmachte und Inhalt auf mich eindrosch. «Bald», sagte dieser Gedanke, «bald ist sie tot.» So sehr ich mich auch dieser Wahrheit erwehrte, es war nun mal eine Wahrheit, und ich stand da und neben mir stand diese Wahrheit und guckte so rum. Ja, das war Konfrontation, die Wahrheit stand im Raum, ich war unfähig sie wegzuschicken, weil sie von einer unglaublichen Dichte war. Die Wahrheit schwieg, aber man musste ja nicht sprechen, wenn man die eindeutige Wahrheit war, dann strahlte ja ohnehin so viel Wahrhaftigkeit von einem ab, dass man sich dieser kaum mehr entziehen konnte. Die Wahrheit lag da, in Gestalt meiner Mutter, die mehr Tod als Leben darstellte und ungefähr jede gefühlte halbe Minute atmete. Dieses Flachbild von Mensch, das meine Mutter war, brauchte ja nicht mehr viel Atem, da reichte es jede halbe Minute sich noch mal sauerstoffmäßig das zu holen, was die Atmosphäre anzubieten hatte.
    Ich ließ die Wahrheit rein, denn ohne jemand, der sie akzeptiert, war ihr Rumstehen und Rumgucken doch etwas sinnlos. Die Wahrheit wirkte wie ein unbeholfenes Kind, dem jetzt endlich mal etwas zugetraut wurde. Und dann, nach langer, langer Zeit des völligen Stumpffühlens tropften mir kleine Tränen aus den Augen und ich fühlte die entsprechende Traurigkeit dazu und die wurde größer, und meine Mutter starrte ins Nichts, und ich schloss die Augen und etwas verschwamm, was nicht dieser Ort war.
    Im Zustand der geschlossenen Augen sah ich mich am elterlichen Tisch sitzen, fünfjährig, hilflos den Dingen des Lebens ausgesetzt, und meine Mutter saß da auch und gab mir zu essen sowie zu trinken und sie lachte. Es war ein drückender Sommer, und ich spürte, wie er unsere Köpfe kleinmachen wollte, dieser Sommer, einfach nur durch drückende

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