Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
Vom Netzwerk:
Schnappschildkröten im Terrarium. Der Nachmittag war golden. Rollatoren kreuzten meinen Weg und die Alten, die sich auf diese Geräte stützen, verwendeten ihre letzten Emotionen und Kräfte, um an Orte zu gelangen, an denen sie Besseres vermuteten. Für einige war das Gehen schwer, für andere das Bleiben.
    Ich erkannte einige Gesichter wieder, andere waren mir neu, und ebenso vermisste ich einige einprägsame Gestalten, die sonst hier an meinen Besuchstagen meinen Weg zu kreuzen gedachten. Ich dachte an Caros Satz: «Du wartest auf den Tod deiner Mutter ...», und er ließ mich schleppender gehen als zumeist, dieser Satz wirkte hier in St. Anna wie Gegenwind auf dem Weg hinauf zu meiner Mutter, wusste ich doch um die Wahrheit, die dieser Satz enthielt, aber auch um die Endgültigkeit, die er symbolisierte. Wenn man so heftige Sätze einfach so sagen kann, ist man entweder ein Genie oder ein Arschloch; bei Caro vermutete ich Ersteres, und ich mochte ihre direkte Ehrlichkeit, die mich aber in ein schleppschrittiges Irgendwas mit erheblichem mentalen Gegenwind verwandelte, das auf dem Weg zu seiner Mutter war.
    Und die Sätze Caros mischten sich auch mit einer Aussage von Frau Braun, die mittlerweile einfach weg war, einen mutigen Neustart in einem fremden Land versuchend. «Glück ist nichts Greifbares, sondern es überfällt dich meist von hinten, vor allem ist Glück auch nichts Planbares, und es hat außerdem kein Gesicht, an dem man es erkennen könnte. Aber es wird dich finden, wenn du dich bewegst ...», so hatte die gute Frau Braun gesprochen, bevor sie sich in ihr eigenes Glück stürzte, es ausschlachten wollte wie ein gut gemästetes Schwein. Ihr Abschied war keiner, der großes Aufsehen erregte, so wie Frau Braun selbst niemals wirklich Aufsehen erregte in ihrer enormen Angepasstheit. Sie erschien mir immer wie ein Puzzleteil, das man in jede noch so abstrakte Szenerie menschlicher Möglichkeiten einsetzen konnte. Die Stelle der Filialleitung war nunmehr eine vakante, in der nächsten Woche aber würde uns ein neuer Mitarbeiter vorgestellt werden.
    Die gepflegte Langsamkeit dieses Rudels Schnappschildkröten im Eingangsbereich des Seniorenheims wurde nur durch die hektisch agierende Frau Overberg gestört, die in der Anmeldung von St. Anna in einem Berg von Papieren wühlte. Als sie mich sah, nickte sie mir aber freundlich zu, ihr fror fast der Ausdruck ein, den sie sich in ihr Antlitz gemeißelt hatte. Auch ich nickte ihr zu, mit dem Wissen, sie wohl nicht mehr ganz so oft sehen zu müssen. Ihr Fassadenfrohsinn war eine schlechte Tarnung; wenn man genauer hinsah, konnte man durch die Betonschicht schlecht geschminkter Gesichtskorrekturversuche lediglich menschliches Elend erkennen. Ihr Lächeln war eingefroren, ihr Ausdruck daher kalt; warum sollte ich diesem Zellhaufen länger als drei Sekunden meiner Zeit widmen?
    Da war das Treppenhaus, die Olfaktorik wie immer, egozersetzend uringetränkt, und ich ging weiter und auf dem Flur war es ruhig wie immer, die Summen der Stimmen im Hintergrund, und ich dachte noch einmal an Frau Bender und wo sie jetzt wohl war, wie schnell so ein Körper wie der ihre verweste. Ich ging noch einige Schritte und dann war ich da.
    Als ich zaghaft durch den Türrahmen glitt, sah ich zwei Menschen, die zum medizinischen Personal von St. Anna gehörten, das sich um meine Mutter kümmerte. Eine Frau, die vielleicht fünfundvierzig war, und ein Mädchen, das allerhöchstens zwanzig war. Sie fassten meine Mutter schweigend an, drückten auf ihren Körper, waren gefangen in pflegerischen Abläufen, ohne wie Menschen auszusehen. Sie wirkten wie einander zugewandte Roboter, die auf einem Bürgersteig in einem Bürgerkriegsgebiet eine Bombe zu entschärfen hatten. Ihre Gesichter waren dabei so ausdruckslos, als würden sie ein Schwein ausweiden oder Fliesen legen. Die beiden lagerten meine Mutter, drehten ihren fast toten Körper auf die Seite und platzierten Kissen hinter ihrem Rücken, auf dass sie in eine Lage käme, die ihr zuträglich war. Natürlich konnte das niemand mehr beurteilen, welche Lage meiner Mutter zuträglich war, aber was mich nervte, war dieser Mangel an Feinfühligkeit in den verlebten Arbeitnehmergesichtern des Pflegepersonals. Sie sprachen weder untereinander noch mit meiner unter ihren Pflegerinnenhänden gewendeten Mutter.
    Beide wirkten nicht, als täten sie ihre Arbeit mit irgendeinem Vergnügen, sondern in beiden Gesichtern war lediglich der Wunsch nach

Weitere Kostenlose Bücher