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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Ich saß hinten in einem Bus, ganz allein saß ich da auf der allerletzten Bank und draußen war alles weiß. Ich schaute aus dem Fenster und da war alles wie mit einer dicken Schneedecke betäubt. Blickdichte Schneeschichten schienen direkt an den Fensterscheiben zu pappen. Dann hielt der Bus irgendwo an und ich stieg aus; irgendein Trieb sagte mir, dass das hier genau der richtige Halt wäre, um auszusteigen. Draußen war dann doch Frühling, ein Geflatter von Schmetterlingen, ein Summen diverser anderer Insekten und eine endlose Wiese. Dazu eine Temperatur, die zum Sich-darin-Bewegen einlud. Ich ging einige Schritte, alles fühlte sich leicht und beschwingt an. Der Duft dieses Ortes war unbeschreiblich. Viele Gerüche lagen in der lauwarmen Luft, irgendwo schien jemand Waffeln zu backen, irgendwo anders kam ein honigsüßes Irgendwas angeschwebt.
    Bald tauchte vor meinem Auge ein Bett auf, ein Pflegebett, in das meine Mutter gepresst war. Sie sah müde aus, hatte aber ihre Augen geöffnet und starrte mich unentwegt an. Da schimmerte etwas Unheilvolles in ihrem Augenausdruck. Ihr Blick ging direkt in meinen Kopf und von da aus direkt in mein Herz, und das wurde ganz weich, wie ein Stück Tofu, so wasserdurchtränkt und unbenutzbar weich wurde das Herz, und ich fühlte, wie es langsamer schlug; meine Mutter intensivierte ihren Blick noch, zumindest kam es mir so vor, als ob sie mit ihrem Blick meinen zu durchbohren versuchte. Endlos starrten wir einander an. Ich schaute zurück in meiner kleinen verlorenen Trauer.
    Etwas weiter entfernt konnte ich Wäscheleinen erkennen, auf denen kleine Mädchen mit weißen Gewändern rote Unterwäschestücke festmachten. Die Mädchen waren wirklich sehr klein und mussten die Leinen zu sich ranziehen, um die Wäschestücke an ihnen zu befestigen. Sie lächelten und summten irre Lieder vor sich hin, während sie ihrer stupiden Arbeit nachgingen. Ich stand weiterhin neben dem Bett und ließ meinen Blick wie zähen Honig durch die Landschaft gleiten.
    Plötzlich bewegte sich das Bett, ganz langsam fuhr es über die Wiese und verursachte irrsinnigerweise ein Quietschgeräusch wie Plastikräder auf Linoleumboden. Wir befanden uns aber immer noch auf einer sattgrünen frühlingshaften Grasduftwiese. Ich lief neben dem Bett her, wieder die Augen meiner Mutter einfangend, die mich zwangen, bei ihr zu sein in diesen Sekunden. Ein Blick aus Liebe, die gleichzeitig Gewalt ist, war das, fast ein böser Blick, aber es war der Blick meiner Mutter. Ich lief weiter neben dem Bett her, die Wiese war weich, die Schritte waren angenehm und ziellos.
    Der Ausdruck meiner Mutter ließ ein wenig nach, die Intensität ihres Schauens wurde schwächer und wandelte sich in ein Gutmütigkeitslächeln. So eins, wie ich es aus Kindertagen kannte, wenn sie nach einem Mittagessen noch mit einem Eis aus dem Keller kam. Das Bett beschleunigte nochmals, und ich hatte bereits Probleme, mit ihm Schritt zu halten. Dann begann das Teil zu wackeln und schwebte Nordseemöwen gleich aufwärts. Der letzte eingefangene Ausdruck, den ich von meiner Mutter sah, war ein losgelöster, fast kindlich freier. Sie flog aufwärts mit dem Pflegebett, das wackelte dann ganz komisch, das Bett, und verschwand sehr schnell aus meinem Blickfeld. Ich stand da und mich füllte eine gnadenlose Traurigkeit, gemischt mit einer seltsamen Fröhlichkeit, die irgendwie gar nicht in mich passte. Diese Fröhlichkeit war aber aufdringlich, wollte, dass ich sie annehme, aber meine Mutter war doch grad noch mit einem Pflegebett zum Himmel aufgefahren, wie konnte ich da die Fröhlichkeit reinlassen? Im Hintergrund war plötzlich eine Oboe zu hören, die die Melodie von John Denvers Leaving on a jetplane spielte. Und die Stimme eines unsichtbaren Kindes sang dazu: «... so kiss me and smile for me, tell me that you’ll wait for me, hold me like you’ll never let me go, ’cause I’m leavin’ on a jet plane, don’t know when I’ll be back again, oh babe, I hate to go ...» Ich war einmal auf einer Beerdigung eines Mädchens, das ich kaum kannte, da wurde dieses Lied von einem Saxofon in eine viel zu stille Leichenhalle geblasen. Unpassend pathetisch. Mit jedem durch das Instrument gepressten Ton wurden Tränen in mir hochgestemmt. Der Song wurde viel zu langsam gespielt und er verging einfach nicht, er blieb im Raum hängen wie Zigarettenrauchschwaden. Und so ging es mir jetzt auch, ich fühlte, wie sich mein

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