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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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erkundigten sich bei mir nach dem Philosophieregal. Beide hatten sie Eulenbrillen, solche, bei denen jeder modebewusste Optiker, der noch gucken kann, den Kopf schütteln würde, weil an kleine Köpfe keine großen Brillen gehören. Die beiden Eulenmädchen schlurften dann nach meiner Auskunft zum Regal ihres Begehrens; ich ging ein paar Schritte mit, mich interessierten diese jungen Dinger und ihre Gesprächsinhalte, schließlich gehörten sie der Generation an, die irgendwann diese Welt vor die Wand fahren oder aber die Kurve kriegen wird. Und wenn sie die Kurve kriegen, werden sie sich fragen, was sie denn jetzt damit machen sollen. Normalerweise war ich kein Stalker, aber heute und gerade nach den Worten von Frau Braun war mein Bewusstsein neu eröffnet worden, wie ein Supermarkt, und was angeboten wurde, war Lebendigkeit und Neugierde.
    Beide Mädchen waren Anfang zwanzig und hatten Gesichtsausdrücke, die sehr gut auf die Plattencover von Emo-Bands passen würden. Die Mimik unendlich skeptizitiert, so liefen die beiden im stolzen Gang an den Regalen vorbei. Weltverachtung und Dekadenz befand sich in ihren Blicken und kein Gramm Soziabilität, dafür aber einige Gramm Gram. Mit tellerminengroßen Augen starrten sie Subtilität in die Atmosphäre, dass es einem gruselte. Beide trugen zu ihren Brillen auf ihren kleinen Köpfen noch Kreativität vortäuschende Mützen, die aussahen, als würden sie ihnen gleich vom Kopf rutschen. Die Dinger wirkten wie zufällig aufgesetzt, aber damit die Teile hielten, wie sie halten sollten, war deren Position perfekt ausgeklügelt. Ihr Kleidungsstil war dieser typische Stilmix aus H&M und Secondhand-Bekleidung, und alles sah wie zufällig rottig aus, hatte aber durchaus System. Ich mag Menschen nicht, die einem ein Chaos vorgaukeln, obwohl sie organisiert wie eine Neonazikameradschaft sind. Das ist eine Beleidigung für die, in denen wahrhaftiges Chaos stattfindet, finde ich. Eine der beiden trug ein verwaschenes Smashing-Pumpkins-T-Shirt.
    Das Smashing-Pumpkins-Shirt hob dann auch ein lautes Sprechen an: «Ey, Melly, der Laden hat ja voll kein Style, so unkomplett alles irgendwie. Die haben nicht mal Adornos Theorie der Halbbildung , wir sind an den Grenzen des popkulturellen Abendlandes angelangt.» Der Satz stand im Raum wie ein heulendes Kind, das aus der Spielzone im Möbelhaus abgeholt werden möchte. Das Mädchen drückte mit diesem kunstvoll aufgestellten Satz eine Distanz zur Welt aus, die auch mir bekannt vorkam. Auch ich fühlte mich oft wie im falschen Laden, und wenn ich über Adorno nachdenke, auch sehr häufig im falschen Leben. Schnippisch und ebenso unterkühlt flackerte auch die Antwort ihrer Begleiterin auf: «Ne, Babsi, stimmt, und auch keine einzige Ausgabe von Russells Lob des Müßiggangs , und das nennt sich Fachabteilung Philosophie und ist doch nur ein schlechter Witz ohne Pointe.» Beide wühlten noch kopfschüttelnd in allerlei Philosophischem und sprachen noch über Werke von Nietzsche, aber alles in kopfschüttelnder Art und Weise. Ihre Gesichter blieben dabei gleichbleibend unemotional.
    Trotz meiner eigentlichen Ablehnung dieser beiden Geschöpfe fand ich sie plötzlich doch irgendwie toll, weil sie mir ähnlich waren. Aber die Ähnlichkeit zwischen den Mädchen und mir bestand nicht darin, die Welt zu verachten und zu missbilligen, was wir zwar alle in unterschiedlichem Maß zu tun pflegen, sondern die beiden und ich, wir hatten keine konkrete Richtung. Abgründe gab es überall und Gründe, in diese Abgründe zu fallen, gab es auch mehr als Hunderte. Und manchmal standen sie da, die richtigen Richtungslosen, standen an Abgründen wie die Selbstmordunentschlossenen und feierten da ihre extravaganten Partys, während derer sie in die Tiefe rauschten.
    Das Smashing-Pumpkins-Shirt trat, das Lied Creep von Radiohead schmetterlingsflügelschlagleise auf den Lippen wispernd («... don’t care if it hurts, I want to have control, I want a perfect body, I want a perfect soul ...»), ans Zeitschriftenregal, neben dem ich stand und irgendwelche Journale ordnete. Dieses Lied war ja wohl der Song, der die Hilflosigkeit von vielen auf einen Nenner brachte. Wir wollen alle Kontrolle und kriegen nur Panik, weil wir wir sind, und dann flüchten wir uns in irre Besonderheiten wie Steine sammeln, Philosophie gut finden oder Vogelstimmen analysieren, und am Ende sind wir doch nur Wurm durchzogenes Fleisch, das über die Grenze der Atemlosigkeit hinaus in Gräbern

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