Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
bleiben, dachte ich mir, hier drin bleiben, bis alles vorbei war. Im Bad war es kalt, aber meiner Mutter beim Weinen zu zusehen, strahlte noch viel mehr Kälte aus. Ich wollte meine Mutter nicht sehen, fühlte ich mich doch nicht imstande, ihren Zustand zu verbessern. Ich setzte mich auf die Toilette und hielt mir die Ohren zu, wünschte mich in eine andere Welt, auch in den Abfluss, den Weg, den mein kleiner Bruder gegangen war.
... und sah in die Augen meiner Mutter, die ausdrucksarm in tiefen, dunkelumrandeten Höhlen herumlungerten wie vergessene, glanzlose Murmeln. Etwaiger Lidschlag zeigte, dass da noch etwas Leben war, aber Leben wollte ich das nicht mehr nennen, es war ein Übergang, in dem sie sich befand. Überwiegend blieben ihre Augen geschlossen. Meine Mutter röchelte, atmen war jetzt die falsche Bezeichnung für das, was sie da tat. Jedes Röcheln klang so sehr nach tiefempfundener Qual, dass ich dachte, der nächste Atemzug bliebe besser aus. Mein leises Weinen hatte sich verflüchtigt und ich konnte nun unverschwommen der Realität ins Auge sehen. «Hallo, Mama. Schön dich zu sehen.» Ich berührte ganz leicht ihre Wange, und sie zeigte keinerlei Reaktion und röchelte unrhythmisch weiter. Weder ihre Augen noch irgendein anderer Körperteil reagierte auf meine Berührung. Ich hatte sie lange nicht berührt, hatte auch lange nicht wirklich das Bedürfnis sie zu berühren, doch jetzt empfand ich die Gelegenheit als günstig, gar als final. Wer wusste denn schon, ob ihr Körper morgen noch mit Leben ausgestattet war?
Es roch weiter nach desinfizierter Umwelt, nach Keim- und Bakterienintoleranz. Sie fühlte sich ganz weich an, ihr Gesicht war von den Pflegerinnen mit fettiger Creme eingerieben worden. Meine Handfläche auf ihrer Wange versuchte, ihr mein Dasein, mein Dabeisein zu übermitteln. «Sterben muss eh jeder allein», sagte dann noch ein anderer Gedanke, der zufällig vorbeikam, und ich nickte und wischte mir die Augen mit dem Pullover trocken und schluckte und akzeptierte. Die Hand ließ ich liegen auf ihrem Gesicht und der Blick in die Leere des Raums war undefinierbar schön in diesem Moment.
Ich fragte mich, was von den Dingen, die ich oder irgendwer sonst noch mit ihr tat, noch in ihrem Bewusstsein ankamen. Hatte sie noch ein Bewusstsein oder verschwand auch das mit den Hirnfunktionen? Ich erinnerte mich an die Aussage eines Arztes, der den Hirnrindenzersetzungsprozess, der während der Alzheimer-Krankheit stattfindet, mit einer Brausetablette in einem Wasserglas verglichen hatte, und fragte mich, ob da jetzt nur noch Wasser ohne Inhalt im Kopf meiner Mutter stattfand und was das wohl für ein Gefühl sein musste. Ich wurde über diesem Gedanken leicht melancholisch, dachte aber, dass es wohl ein gutes Gefühl sein müsse, diese Leere im Kopf zu haben, diese Ruhe, vielleicht leichtes Meeresrauschen zu empfinden, irgendwo schreit ein Möwentier und der Rest ist Wind und Welle und Weltumrandung. Dann lösen sich vielleicht noch die Ränder auf, die Konturen gehen weg, und meine Mutter starrte in diesen meinen Gedanken und meine Hand blieb, wo ich sie platziert hatte, und ich fühlte mich gut und richtig. Die Traurigkeit, sie bewusst zu empfinden, das war etwas sehr Angenehmes. Innerhalb meiner kleinen Traurigkeit hatte Sterben etwas Romantisches.
Dünn und hohl lag sie da, die Hülle meiner Mutter, darauf meine Hand. Ich wusste nichts über die Zeit, nicht wie lange ich schon hier war und wie lange das Gefühl, das gerade in meinen Körper kroch, da drinbleiben würde. Es fühlte sich an wie Erhabenheit über einen bestimmten Augenblick zu haben, der eigentlich schlimm war und den man sich zuvor schon schlimm vorgestellt hatte. Ich hatte mich einst gefühlt wie einer, der vor einer Wand stand, vor der ein Erschießungskommando seine Arbeit verrichten sollte. Jetzt war es gerade egal, wer wann auf mich schoss, alles fühlte sich in hohem Maße richtig an.
Ich blieb weiter da, blieb in diesem Raum, strahlte das Gefühl aus, dass alles richtig war, was geschah. Zwischendurch kamen wieder die beiden Pflegerinnen ins Zimmer meiner Mutter, um ihren regungslosen Leib zu wenden, damit sie sich nicht wund lag. «Dekubitusprophylaxe», sagte das Mädchen, und die ältere Pflegerin erklärte ihr einige Handgriffe, mit denen man jemand Bewegungsunfähigen am besten in einem Bett wendete, ohne sich oder demjenigen wehzutun. Sogar Bettwäsche konnte gewechselt werden, ohne dass meine Mutter aus dem
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