Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
Bett gehoben werden musste. Die beiden machten ihre Arbeit, pflichtbewusst und Schichtende herbeisehnend.
Zwischendurch rief Caro auf dem Handy an und tat Sehnsucht kund, und ich lief mit ihrer Stimme im Ohr auf dem Flur entlang und sehnte mich auch nach ihr, und wir verabredeten uns für den Abend. Es tat gut, nach diesem Tag eine Perspektive auf empfangende Arme zu haben. Ich freute mich auf sie. Auf ihre Nähe, auf ihren Körper. Und auf ihre Lebendigkeit. Ich glaube, deswegen hielt ich das heute auch so lange hier aus, weil in der Wärme meines Zuhauses jemand Lebendiges auf mich wartete. Caro war Heilsarmee, Caro war Oase, Caro war Hoffnung. Das sagte ich ihr aber nicht, weil ich mir unsicher war, ob sie all das überhaupt sein wollte und konnte.
Es dämmerte bereits, als ich mich entschied zu gehen. Zuvor hatte ich wieder für mindestens zehn Minuten meine Hand auf die Wange meiner Mutter gelegt, um ihr mein Hiersein zu bestätigen. «Sterben muss eh jeder allein», sagte mir nochmals ein Gedanke, und ich sagte: «Mama, ich muss, bis bald mal ...» Sie starrte ausdruckslos in die Leere, ihre Hülle lag auf dem Bett wie eine ungewaschene, vergessene Decke. Die Augen meiner Mutter waren verschlossen und wie zuvor klang jedes Ringen nach Luft wie unendliche Anstrengung.
Die Treppe. Ganz bewusst die Treppe nach unten. Jede Stufe war Entfernung, ein bisschen Entfremdung, aber jede Stufe hatte Sinn, denn sie brachte mich nach unten, dahin, wo ich hin wollte, auf den Boden der Tatsachen. Im Eingangsbereich befand sich niemand mehr, außer im kleinen Anmeldezimmer, da war noch jemand. Aber ich sah nur einen huschenden Schatten.
Hinten im Bus. Ich saß da wie das Elend, das ich empfand, und mein MP3-Player rotzte mir zärtliche Melancholie in Form von Postrock ins Ohr. Außerdem tauchten verschiedene Gesichter meiner Mutter vor meinem geistigen Auge auf, welche von einst und welche von heute, gemischt mit etwaigen Kindheitssequenzen, pädagogischen Maßnahmen und liebevoller Mütterlichkeit. Das Ganze wirkte wie ein preisunverdächtiger, experimenteller dänischer Kurzfilm und auch der Soundtrack passte hervorragend in dieses Gesamtkonzept.
Drei Tage später war ich immer noch in dieser Blase aus Melancholie und der Annäherung an die Akzeptanz der Notwendigkeit von Vergänglichkeit gefangen. Es umgaben mich in diesen Tagen Gedanken, die ich nie zuvor und auch danach niemals mehr zu denken imstande war. Caro war am Abend zu mir gekommen, und wir hatten uns vor dem Fernseher in erquickliche Ruhepositionen begeben, um uns vom medialen Katastrophenunsinn beschallen zu lassen, nur um unsere persönlichen Katastrophen in etwas gedimmterem Licht zu sehen. Das funktionierte ganz gut, denn wenn neben einem Bomben explodieren, die einen scheinbar nichts angehen, spürt man die Einschläge, die einen selbst betreffen, nicht so sehr. Ich spürte aber, dass die Einschläge näher kamen, dass ich persönlich im Visier von Bomben war, deren Vernichtungsradien mich meinten. Und noch war ich in der Position, ausweichen zu können ...
Nachts war ich dann halb schlafend, immer ein paar Gramm Angst zu viel im Körper, um gerechten Schlaf zu finden. Meine Träume waren grau und belanglos, wie blasse Vorstadtkinder, die Angst aber, die kam direkt aus dem Leben und so verhielt sie sich auch: unmittelbar und einnehmend. Caro schlief bereits, als mein Handy auf dem Nachttisch surrte. Auf dem Display stand: «St. Anna». Es war so weit. Meine Mutter war gestorben.
***
Ich hatte immer Angst vor diesem Moment. Dieser Moment beinhaltete: Leute kommen zusammen und planen eine Beerdigung. Jetzt war der Moment da, und er kroch wie ein angeschossenes Kind im Bürgerkrieg durch das Wohnzimmer meines Vaters und dehnte die Sekunden mit seiner brutalen Wahrhaftigkeit in unerträgliche Langsamkeit. Und jetzt, da der Moment da war, war er genauso schlimm, wie ihn mir meine Vorstellungskraft einst einzuprügeln gedacht hatte. Menschen machen ja häufig den Fehler, imaginäre Sachen zu stark zu bewerten, und dann eher die Bewertung zu empfinden, weil die, wenn die immer wieder auf replay geschaltet wird, relevanter wird als das eigentlich präsentierte Ereignis.
«Drei Würfel Zucker und ein Schuss Milch, aber nicht umrühren, ich mag das nicht so süß.» Da war wieder dieser Satz, der sich wie ein alter Freund ins Zimmer schlich, eine Tüte voll Trost dabei. Mein Vater konnte es nicht lassen, diesen Satz auch jetzt anzubringen, aber der Satz war so
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