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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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leise; so unglaublich still war das ganze Wohnzimmer. Die Schwierigkeit der leisen Momente, manchmal war sie nur durch subtile Witze zu durchbrechen.
    Im Haus meines Vaters war heute einiges los. Viele Verwandte und Bekannte, Nachbarn und sonstige Angehörige riefen an, statteten kurze Kondolenzbesuche ab und sprachen mit meinem Vater. Hier und da gab es Beileidsbekundungen, Trauerkarten wurden in die fleischigen Hände meines Vaters gepresst, und viele Worte wurden in dieser Familie nicht gemacht. Die lange Krankheit meiner Mutter wurde von einem Bruder meines Vaters mit den Worten: «Jetzt hat sie es hinter sich, bestimmt besser so», auf ein Maß reduziert, dass mir noch einmal, sehr hinterhältig zwar, aber deutlich die Unumgänglichkeit eines jeden Ablebens bestätigte. So konnte man mit wenigen Worten einen Umstand beschreiben, der das ganze Leben umfasste, jede verfickte menschliche Existenz betraf und immer da war. Erika war die ganze Zeit sehr zurückhaltend, war lediglich eine Nachbarin, die einen traurigen Eindruck machte, und mein Vater spielte mit und niemandem in der Familie fiel auf, dass Erika die Küche meines Elternhauses besser kannte als mein Vater selbst.
    Kleine Metalllöffel hielten sich in Porzellantassen auf und machten winzige Geräusche. Rührung war im Raum, Rührung und Demut. Erika goss uns Kaffee ein. Mein Vater rührte daraufhin in seiner Tasse, als wolle er, dass jeder Tropfen Kaffee einmal zumindest überall in der Tasse war. Der damit verbundene Widerspruch zu seinem fortwährenden Witz schien ihn nicht zu interessieren, nicht zu ihm vorzudringen. Alles, was er gerade tat, tat er in bedächtiger Langsamkeit, als habe er Angst vor Worten, die jetzt jemand sprechen musste. Wir schwiegen, es war gut zu schweigen, die Zeit einfach verkommen zu lassen und ihr beim Vergehen zu zusehen wie Regentropfen an Fensterscheiben.
    Erika nannte meinem Vater gegenüber meine Mutter «deine Frau», was ich gut fand, weil darin Respekt lag, Respekt vor der Ehe meiner Eltern, die nicht mehr wirklich bestand, aber ich sah einen Vater, der in Gesellschaft einer ruhigen Frau verweilte und dem es damit gutging; und so hatte die Moral, mit der ich erzogen wurde, keine Wirkung mehr. Wir saßen im Wohnzimmer, auf dem Tisch standen die Reste der Bewirtung, die mein Vater und ich unseren Gästen hatten zuteil werden lassen. Erika übte sich in Zurückhaltung, vermischte nicht unser Familiäres mit ihrer Befindlichkeit. Sie stand da, hinter meinem Vater, eine Hand auf seiner Schulter, die andere hing schlaff herab.
    Mein Vater sah mich aus roten, lebendigen und leicht verwässerten Augen eindringlich an. «Wir konnten uns lange darauf vorbereiten.» Nur ein Flüstern, ein Hauch seiner gewohnten Stimme. Er saß mir gegenüber, und ich sah, wie er mit den Tränen kämpfte und den Kampf gewann. Er war einer dieser Männer, die solche Kämpfe oft gewonnen hatten, wenn die Tränen kamen, die Traurigkeit auf die Kopfspülung drückte. Man sah, wie es hinter seiner Fassade arbeitete, wie Gefühle geordnet, andere durch den Aktenvernichter der enormen Selbstdisziplin zerschreddert wurden. Seine Erika schwieg und stand hinter ihm, eine Hand auf seiner Schulter. Sie trug eine Küchenschürze. Neben mir saß Caro. Sie starrte still in eine Ecke. Wohin sollte sie auch sonst starren?
    Die Landschaft in meinem Kopf war nahezu unbegehbar. Konkrete Denkwege gab es nicht. Jemand hatte ein paar Bäume gefällt, die jetzt auf dem Weg lagen, einen eindeutigen Blick versperrend, die Undurchdringbarkeit von Kopfchaos. Caro streichelte meinen Oberschenkel, mit zwei Fingern nur, kaum spürbar und trotzdem so was von anwesend. Ihre Nähe tat wirklich gut und wirkte wie ein beruhigendes Psychopharmaka. Sie neben mir zu wissen war ein geschmückter Augenblick, auch wenn der Anlass unseres Hierseins mich immer wieder zurück in meinen autistischen Kopf riss.
    Die unbegehbare Kopflandschaft bestand aus Erinnerungen und Bewegungen. Ich imaginierte eine Straße quer durch meinen Kopf, mein Ziel unbestimmt, meine Gedanken unbegründet, meine Ideologie unfehlbar. Und ich lief und lief mit zweifelhaften Absichten und sah mich um an Straßenrändern, an denen ich ein kleines Gewächs aus Wahrheit oder Eindeutigkeit vermutete. Neben mir lief meine Mutter und ihr Ausdruck wechselte ständig, wie auch ihre Kleidung, ihre Haltung. Ich verlor das Fingerspitzengefühl für Nähe und Distanz und war irgendwann so nah und schwierig an ihr dran, dass es

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