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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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uns beiden wehtat. Aber wir liefen weiter, durch meine Kopflandschaft, und verloren uns gefühlsmäßig in unterschiedlichen Altersstufen. Hinter uns lief die ganze Zeit ein Mann, der einen Bollerwagen zog, auf dem ein Grammophon «Non, je ne regrette rien» von Edith Piaf spielte. Das war mein Vater. Eine obskure Szene, aber so ging dann wohl endgültiger Abschied. Ich akzeptierte in Schwermut.
    Dann waren wir aber doch imstande, uns zu unterhalten, und die Sentimentalität, die sich hier aufhielt, bekam durch unsere Worte den respektvollsten aller Ausdrücke. Tränenausgewrungene Worte schwebten durchs Zimmer, der Inhalt war fast egal, es wurde knapp am Tod vorbeigeredet. Jeder hier im Raum hatte auch seinen eigenen Tod auf dem Präsentierteller und dementsprechend leise wurde geredet. Als ob der Tod mit uns am Tisch säße und den bestrafen würde, der zu laut spricht.
    Caro ließ mich nicht los und starrte in die Ecke, der Blick meines Vaters ruhte auf mir, der Blick von Erika ruhte auf meinem Vater, ein ganzes Wohnzimmer voller ruhender Blicke, die in Ecken oder auf Personen lagen. Ich war anwesend abwesend. Ich sprach mit diesen Leuten, die ich alle kannte und die doch eine Herde fremder Tiere darstellten, wie sie mich und sich gegenseitig mit Mitleid angafften. Ich sprach mit diesen Leuten über Grabsteine, die letzten Wünsche meiner Mutter, irgendwelche Kosten, die dadurch entstanden sind, dass meine Mutter gestorben war. Gleichzeitig war ich tief in mir und suchte Ruhe, suchte einen Ort zum Festhalten, suchte meine Mutter, deren Körper ja nun verstorben war und die nun nur noch aus Erinnerungen bestand.
    Ich fühlte mich, als hätte ich den gesamten Schmerz meines Lebens als Rucksack geschultert. Darin waren viele kaputte Szenen einer manchmal viel zu sentimentalen Kindheit, eine ausgebremste Jugend und ein kleines Erwachsensein, das einen mit dem Feststellen der eigenen Vergänglichkeit strafte. Außerdem war da noch Schmidt, die Blutpfütze mit dem eigenartigen Geruch, die mein Geschwisterteil hätte werden können, blaue Fieberfinger und Vogelstimmen. Das alles machte den Rucksack schwer, und all die Erinnerungen bildeten ein Summengewicht, das mich manchmal in die Knie zwang. Zu keiner Zeit meines halbierten Lebens habe ich mich einfach nur auf einen Stein setzen können, um in Ruhe die Umgebung anzusehen. Das Leben war mit einer Geschwindigkeit unterwegs, deren Luftzug man spürte, sobald man sie in seine Empfindlichkeit ließ. Auch jetzt spürte ich Geschwindigkeit, obwohl das Leben eigentlich langsam hätte sein müssen; ich dachte immer, wenn jemand stirbt, dem man sich irgendwie verbunden fühlt, dann hielte die Zeit an, würde stillstehen, die Zeit, aber sie lief einfach gnadenlos weiter. Die Zeit, so wurde mir klar, war wie ein afrikanischer Langstreckenläufer und war mit einer Kontinuität am Werk, die einem schon mal unheimlich vorkam.
    Wir hatten irgendwann alles geklärt, waren alle mit Aufgaben betraut, die dazu nötig waren, meiner Mutter eine würdevolle Beerdigung zu schenken. Das wollte ich. Abschied und Abgesang. Ein Loch in der Erde, darin die alte, verbrauchte Hülle und die Hoffnung auf einen anderen Ort, an den so was wie eine Seele fliegen kann. Ich war noch nie der Typ für Spiritualität, aber jetzt am Rand eines imaginären Grabes hoffte ich doch, dass es da irgendetwas gäbe, wohin man als Toter gehen konnte. So ein Ende eines Lebens ist ja in seiner Drastik und Unmittelbarkeit mit nichts sonst zu vergleichen. Plötzlich verstand ich auch Leute, die sich ein Paradies oder einen Himmel wünschten, denn ein Ende der Existenz war so unvorstellbar wie ein Ende der Lindenstraße.
    Mein Vater verließ dann den Raum, schlurfend, schleppend, fast scheppernd. Er ging, wie jemand geht, der vor nichts mehr auf der Flucht sein musste. Das Geräusch zu seinem Gangbild wäre ein quietschendes Türscharnier, das nach Letzter Ölung brüllte. Der Gang meines Vaters war in diesem Moment von einer sonderbaren Theatralik, so stehen nur Menschen auf, die wissen, wie sich körperliche Arbeit und anschließende Erschöpfung anfühlt. Dieses Aufstehen sah nach Schmerz aus, der Gang nach Qual. Erika schaute mich mit sorgenvoller Miene an, ich sah, wie Gedanken in ihr arbeiteten, die viel zu tun hatten, und plötzlich brach es aus ihr hervor: «Ich hoffe, es ist in Ordnung für dich, dass ich euch helfe.» Sie wirkte plötzlich so unbeholfen wie ein Kind, das eine unangenehme Fragestellung mit sich

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