Vogelweide: Roman (German Edition)
ruhiges Glück. Aber ich will dich nicht sehen. Ich bin verheiratet. Ich bin glücklich verheiratet. Nichts fehlt mir. Wirklich nichts.
Doch, sagte er, ich.
Und sie sagte, ja, du.
Sie saßen wieder einmal in ihrem Café und redeten zunächst über Dinge, die ihnen fernlagen, die so gar nichts mit ihnen zu tun hatten, über den Transport des Atommülls, über die Neoliberalen, die sie ganz wie der englische Freund nicht ausstehen konnte. Einmal warf sie in einem Wutausbruch über einen zynischen Journalisten mit der Faust herumfuchtelnd, ein Rotweinglas um. Eine erstaunliche Verachtung gegenüber all jenen, mit denen sie doch durch Familie, Kinder, Tennis, Fremdsprachen, Kunstvorträge und Reisen ins Gebirge oder nach Sylt verbunden war. Ewald fuhr eine Harley-Davidson, was sie peinlich fand, sein Kindheitswunsch, sagt er, gut, gut, sage ich, was wünscht man sich nicht alles, das ist keine Entschuldigung, ein Leben, so gesättigt, auch noch mit dem kokett ausgesprochenen schlechten Gewissen über die Ungerechtigkeit der Welt, ein gesättigtes, ein übersättigtes Leben, zum Kotzen, das ist die neue gefeierte Bürgerlichkeit, sie hatte ein zweites Glas Bordeaux getrunken, eine Erregung, die aber auch nach einem Glas Wasser über sie kommen konnte, derart, dass von den umliegenden Tischen zu ihnen herübergesehen wurde. Sie sagte, dieses Hyper-Leben, dieses Verdoppeln, dieses Haben, das Habenwollen, zwei Autos, Stadtwohnung und Landhaus, ein Motorrad, ein Motorroller, das Rennrad für den Tiergarten, das Mountainbike für die Uckermark, im Winter Kirschen aus Chile, dieser Überschuss, du musst nur die Mülltonnen ansehen, die Müllhalden, da wird die Gesellschaft hingekippt, der Überfluss, der woanders zu Hunger führt, unser Übergewicht reichte aus, dass in Afrika niemand mehr verhungern müsste, es ist pervers. Ihre Hände flogen hin und her, beschrieben Kreise und Achten, als dirigiere sie eine Symphonie von Mahler.
Und er sagte, ja, und gib mir deine bewegte Hand, die sie ihm jedes Mal nur zögernd überließ, als könne er sie am Ende behalten, und er fasste sie durchaus kräftig – sie sahen sich an, und ihre Erregung war mit dem Gestikulieren, so schien es, verflogen. Sie saßen da in der Ruhe des Ansehens und Fühlens. Und langsam traten Worte zurück, das Hin und Her verlangsamte sich – und alles fing wieder an.
Das Begehren, ja, ja, sagte der englische Freund, als er ihm in einer der nächtlichen Telefonkonferenzen von seinen Recherchen erzählte. Also was, wollte er wissen.
Die Hoffnung, nicht allein zu sein. Der Überfluss an Schmerz und Lust. Sinn aus den Sinnen.
Der Freund hatte ihn mit einem trockenen Gut, gut, gestoppt und gesagt, du hast dir das ganz gut eingerichtet, hast eine feste Freundin, wohnst aber nicht mit ihr zusammen, hast also nur einen Halb-Alltag oder noch weniger, einen Viertel-Alltag, genau so, dass sich nicht der Ärger über störende Gewohnheiten einschleichen kann. Triffst deine wunderbare Selma immer mit geputzten Zähnen und das Haar geordnet, dass dann von dir zerwühlt wird. Eine Beziehung in einer Frischhalte-Verpackung. Und jetzt noch eine Freundin. Meine Studentinnen hätten dafür nur ein Wort: Pascha. Du weißt, ich hab es nicht mit der Moral. Und darum sage ich: Nur zu!
Und dann erzählte er von einem seiner Doktoranden, der nicht mehr in die Sprechstunde komme wegen einer akuten Agoraphobie. Zuerst habe ihn ein anderer Student noch begleitet, auch vor der Tür gewartet. Jetzt treffe er den Doktoranden in wechselnden Cafés. Dort berichte er dann über den Fortgang seiner Arbeit: Das Gesundheitswesen in der deutschen Kolonie Togo .
Das Gespräch wurde unterbrochen, und Eschenbach grübelte darüber, was die Agoraphobie und das Gesundheitswesen in Togo mit seiner Situation zu tun hatten, die zugegeben unzumutbar war. Unzumutbar Selma und Ewald gegenüber, aber auch für Anna und ihn selbst. Es war der Augenblick, als er wie sie dachte, ich verhalte mich unwürdig.
Er hatte daraufhin zu Anna gesagt: Wir müssen ins Offene kommen. Komm zu mir. Wir werden Selma und Ewald sagen, was uns widerfahren ist.
Eschenbach und Selma waren von Ewald und Anna eingeladen worden, nachmittags, an einem grauen, verregneten Tag im August. Sie saßen in dem großen Wohnzimmer. Das finnische Au-pair-Mädchen war mit Lisa und Ole zu einem Kindergeburtstag gegangen. Anna hatte den Tisch gedeckt mit Toast, Teewurst, Butter, Orangenmarmelade, englische, extra für dich, sagte
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