Vogelweide: Roman (German Edition)
Glück.
Das aber, sagte Eschenbach, ist heute doch das Angesicht der Werbung, der Filme, des Fernsehens, diese glatten, zurechtoperierten Gesichter. Es meint eben nicht das schöne Wort Angesicht, in dem beide Bedeutungen in sich greifen: Gönn ihm dein Angesicht, sieh ihn an und lass dich ansehen. Das meint auch die Wendung: in Gottes Angesicht.
Man merkt Ihnen immer noch die Theologie an.
Ja, sagte er, etwas bleibt eben immer hängen, so ja auch bei Ihnen, denn Sie suchen danach, wie man sich die Wünsche der anderen gefügig macht.
Sie sah ihn an, kein Grinsen, er bemerkte diesen großen Unterkiefer und: Sie sieht aus wie Kater Murr. Ihr Kopfschütteln war ein einziges Nein. Ich will nicht die plumpe Begierde und nicht den Gehorsam, glauben Sie mir.
Als der englische Freund ihn wieder besuchte, hier, in der Stille, und fragte, wie es mit seinen Befragungen stehe, sagte Eschenbach: Wenn man – und natürlich dachte er dabei an die Nase – den anderen sieht und sogleich einen Widerwillen verspürt und zugleich weiß, dass auch der andere ganz ähnlich empfindet, woher kommt das? Das Aussehen? Vielleicht. Aber was ist diese tiefe Ablehnung, die man, erwachsen und vernünftig, mit vielen guten Gründen versucht zu relativieren, versucht, sich selbst auszureden, wobei uns das Gefühl der Unredlichkeit gegen uns selbst nie verlässt, und der Verstand sich gleich wieder Beispiele zur Gefühlsbestätigung sucht und die erste Empfindung ins Recht setzt? Und man zu sich selbst sagen muss, du willst es anders sehen, aber du kannst es gar nicht anders sehen. Ist dieser emotionale Wahrheitsgehalt nicht ähnlich überzeugend wie der rational durch Erfahrungen begründete, der mir sagt: Er ist ehrlich, weil er mich nie bestohlen hat?
Das intuitive Denken. Thin-slicing. Es gibt Untersuchungen, lies Wilson und Schooler Thinking Too Much , sagte der Freund, der sonderbar grau war im Gesicht, nicht allein durch den Bart. Er hatte doch nie einen Bart getragen.
Es ist der Wunsch, sagte Eschenbach, den Menschen aus der Kindheit wieder zu finden, der lustvoll in unserem Unbewussten rumort. Vielleicht eine Tante, die Mutter, der Vater, vielleicht eine Kindergärtnerin, was weiß ich.
Olé! Das Begehren ist der Körperhunger, der Körperdurst.
Und der Unterschied zwischen dem Begehren und der Begierde?
Das Besitzenwollen.
Und die Gier?
Gulo Gulo.
Was?
Der Vielfraß.
Wieder so ein Nietzsche-Zitat, sagte der Freund.
Und sie lachten.
Theologie hatte er studiert, nicht nur um den Vater und die Mutter zu ärgern, die als bekennende Atheisten auftraten, sondern weil ihn die Frage umtrieb, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Und auf die Frage des Vaters, der immer noch zahlen musste, erst später sollte Eschenbach ein Stipendium bekommen, warum er Theologie und nicht etwas sozial Relevantes, wie der Vater sagte, studiere, hatte er geantwortet, er habe das Irrelevanteste gesucht, das Nutzloseste, wenn man nutzlos denn überhaupt noch steigern könne.
Gut, hatte der sich selbst als verständnisvollen Menschen einschätzende Alte gesagt, dann mal zu, dann mal weiter so irrelevant, aber nur bis zum kürzest denkbaren Abschlusstermin. Danach spende ich das Geld an die Befreiungsbewegung in Südafrika. Damals gab es noch Befreiungsbewegungen, die nicht korrupt und kriminell waren.
Und als Anna ihn abermals fragte – eine Frage, die Selma nie gestellt hatte –, warum Theologie, war seine Antwort, weil ich nicht glauben kann.
Was ich sogleich an dir mochte, sagte sie und nahm seine Hand, deine komische Unbedingtheit.
Na ja, sagte er abwehrend, vielleicht ist es Dummheit. Und die ist bekanntlich immer komisch.
So lange er jung war, galt er, so wie er lebte, als recht eigensinnig, als interessant, älter werdend als fintenreicher Unternehmer, nun, nach dem Bankrott, wohl eher als Kauz, es sei denn, man wurde Zeuge eines seiner Wutanfälle.
Sieben, acht Jahre lang war er ein reicher Mann gewesen. Allerdings arm an Zeit. Es gibt eine Zeitarmut. Die wiederum zur Verrohung führt. Eine Brutalisierung des eigenen Selbst. Er arbeitete. Verhandelte. Reiste. Kunden mussten besucht und neue gewonnen werden, Programme mussten ihnen erläutert, mit Banken musste verhandelt werden. Mit dem Ankauf der Anteile des Partners war er noch reicher, denn er war ein Millionenschuldner geworden. Keine Nacht vor drei ins Bett. Früh morgens raus. Zu Hause das Rudergerät. Der Sandsack in der Firma, an dem nicht nur er seine Wut,
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