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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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offenen Fenster war der Blick frei auf einen Park, der von einer Art Gloriette abgeschlossen wurde. Im Garten die Herren in knapp geschnittenen Anzügen, viel Schwarz, keine Krawatten, die Frauen in Sommerkleidern. Darunter vier Frauen, deren breitkrempige Hüte die vom Alter und Wohlleben verwüsteten Gesichter beschatteten.
    Die Hausherrin, Amerikanerin und, wie Ewald erzählt hatte, Akteurin in Hollywood-Filmen, die aber niemand je gesehen hatte, stand da, redete und zeigte in einem dunkelroten, knappen Kleid ihre makellose Figur. Ein paar ältere Herren lauschten ihr, die Blicke versenkt in dem Ausschnitt mit dem sichtbaren Brustwarzenhof. Was für ein niederziehendes Wort – wie schön dagegen das englische Areola.
    Wann, sagte Eschenbach zu Anna, während Ewald von ein paar jungen Damen und Herren gefeiert wurde, die das Haus so gelungen, so großartig, so mutig fanden, wann stirbt diese Generation aus, zu der ich ja auch noch gehöre, die wegen der ihr in der Pubertät verweigerten Einblicke lebenslänglich zum Voyeurismus verurteilt ist.
    Anna lachte, sagte, das Aussterben jeglicher Art sei ein Verlust, zog ihn beiseite und ging mit ihm durch die weitläufigen Räume. An den Wänden großformatige Bilder von Richter, Baselitz und Penck. Nach der Profession des Hausherrn gefragt, hatte Ewald auf der Hinfahrt nur Immobilien gesagt. Früher war er Mitglied einer kleinen radikal-revolutionären Gruppe gewesen, die das albanische Modell von Enver Hoxha auf die Bundesrepublik übertragen wollte – keine Farbfernseher, keine Waschmaschinen, die Frauen mussten Büstenhalter tragen, eine albanische Errungenschaft, und Professoren wie Studenten rückten in den Semesterferien zum Straßenbau aus. An diese gute alte Zeit erinnerte die blaue Marx-Engels-Gesamtausgabe in dem großen Kaminzimmer. Hatte Eschenbach sich je unter vergoldeten Wasserhähnen die Hände gewaschen? Das von der englischen Königsfamilie bevorzugte Duftwasser stand vor dem vier Meter langen, goldgelb gefärbten Spiegel, er schnupperte an einem der englischen Eau-de-Parfum-Fläschchen. Es rief ihm ekstatisch zu: Klau mich. Er tat es.
    Ewald stand mit dem Hausherren zusammen, der große Ewald, eine Zigarre in der Hand, und der kleine Hausherr, ebenfalls eine Zigarre in der Hand, sie waren in ein Gespräch vertieft, in dem es, wie Anna sagte, sicherlich um die Planung eines zwanzigstöckigen Firmensitzes gehe.
    Es war der Moment, als Eschenbach Ewald zum ersten Mal für sich den Planer nannte.
    Anna und er gingen in den Garten. Sie tauchten wieder in die kompakte Schwüle ein. Wahrscheinlich lief in dem Haus die Klimaanlage, trotz der offenen Türen. Auf einem Steintisch standen Dosen mit Mückenspray.
    Ich könnte ihn erwürgen, hatte sie ihm zugeflüstert.
    Wen?
    Ewald.
    Warum?, fragte er scheinheilig.
    Dieser Klops. Seine Entschuldigung, einmal etwas Klassisches, Kleines bauen zu wollen. Ich könnte ihn erwürgen, wiederholte sie, komm, wir gehen in den Wald. Diese Typen hier sind unerträglich. Zum Kotzen. Los. Ich mag die Kiefern. Ich mag den Geruch, jetzt gegen Abend, den Kiefergeruch. Harzig süß. Ich mag den weichen Nadelboden. Komm. Ewald muss mit dem Herrscher der Immobilien ein neues Projekt besprechen.
    Es war wohl das einzige Mal, sagte er sich im Nachhinein, dass sie mit ihm absichtlich und mit Lust zur Abstrafung von Ewald zusammen gewesen war.
    Sie gingen zu dem kleinen Wald hinüber, zu einem Zaun. Sie raffte das Kleid hoch und kroch auf allen vieren unter dem Draht, den er hochhielt, durch. Er folgte, und da sie den strammen Draht nicht richtig hoch bekam, robbte er auf dem Bauch über die Grundstücksgrenze.
    Sie lachte und sagte, komm, mein kleiner Mohikaner.

    Nur einmal hatte er vor ihr von Ewald als dem Planer gesprochen. Sie war zu ihm gekommen, nachmittags, und sie hatten Zeit bis weit in den Abend gehabt. Sie hatten sich geküsst und saßen schon auf dem Bett, die Terrassenfenster waren offen, und von unten und fern war die Stadt zu hören. Er hatte den Veltliner, den sie gern mochte, kaltgestellt und eingeschenkt. Die Gläser beschlugen mit feinen Spuren des ablaufenden Wassers. Und es kam wieder zu einem der Gespräche, die in letzter Zeit immer häufiger wurden, in denen er sie drängte, sich zu trennen, zu ihm zu kommen. Ich werde es Selma sagen. Ich werde mich trennen. Und du, du setzt deine Kinder ins Auto und kommst zu mir. So einfach ist das.
    Nein, es ist ganz fürchterlich schwer.
    Ja, für Ewald und für Selma.

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