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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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hatten sich danach mehrmals getroffen, und sie hatte ihn mit Thesen traktiert, die sie mit ihrer Faust in die Luft hämmerte, diese überfressene Zufriedenheit, dieser neurotische Konsum. Diese Andrea war eine Vorahnung von der nicht ganz so radikalen, verträglicheren Anna. Seinen Einwänden hörte sie ungeduldig und spöttisch zu, um sie sodann mit einer unversöhnten Überheblichkeit zu widerlegen. Es waren Argumentationsketten und Begriffe, die ihm nicht vertraut waren. Er fühlte sich, eine ganz ungewohnte Empfindung, unsicher, meinte, ihr nicht gewachsen zu sein, wenn er sich auf ihre Argumentationsebene einließ. Er dachte an seinen Vater, seine Mutter, die beiden Mitbegründer des Republikanischen Clubs, Veteranen der Ostermarschierer, Flugblattverteiler vor Kasernen und Fabriken, in denen damals elektronische Zielvorrichtungen für Raketen hergestellt wurden.

    Eschenbach ging mit ihr, kam sie nach Berlin, essen, weiterhin gelegentlich in die Oper, wobei ihm manchmal der Verdacht kam, sie selbst bezahle die teuren Karten. Andererseits hatte sie, dachte er dann wieder, doch wohl noch Verbindungen aus ihrer kurzen Zeit als Schauspielerin.
    Gut zwei Monate nach dem ersten Anruf mit der Bitte um Unterstützung kam der Informatiker, der den Organisationsplan ausgearbeitet hatte, zu ihm und sagte, sie seien gehackt worden. Eine Arbeit für die Regierung, die sein alter Kompagnon an Land gezogen hatte, aufwendig und gut bezahlt, in der es um die Planungen für eine Mülldeponie in einer ostdeutschen Stadt ging. Eschenbach hatte sofort den Verdacht, dass dieser Hackerangriff mit Andreas Organisation zusammenhing, der sie die Software für die Verteilung der Hilfsgüter in den Sudan geliefert hatten.
    Als sie wieder nach Berlin kam, fragte er sie aus, hartnäckig. Wo sie geboren ist? Woher sie jetzt kommt?
    Frankfurt.
    Was sie genau arbeitet, jetzt?
    Hab ich dir schon erzählt.
    Nein.
    Deutschunterricht für Ausländer.
    Für wen?
    Was heißt, für wen?
    Wer bezahlt es?
    Meine Güte, das ist ja das reinste Verhör, lachte sie.
    Interessiert mich einfach.
    Eine Bürgerinitiative. Ein Verein.
    Und dann fragte er sie, ob ihr Verein, wie er etwas nonchalant sagte, sich in seine Firma ungefragt eingeloggt habe.
    Sie lachte, sagte, deine Phantasie ist ziemlich wild. Ihr Spießer in euren netten Häusern und Lofts schlaft zu Recht schlecht, ihr macht euch in die Hose, wenn ein paar Autos abgefackelt werden. Euer Verfolgungswahn ist kein Wahn, sondern sehr rational. Währenddessen hatte sie sich die Schuhe geangelt, war erst dann in den Rock gestiegen, hatte sich die Bluse angezogen, die Tasche, eine Computertasche mit dem Aufdruck HBBC – was hieß das? – genommen, hatte ihn auf die Stirn geküsst und gesagt: Bye, bye, mein kleiner grauer Prinz. Und pass auf, dass die Tiger von nebenan dich nicht holen.
    Sie war gegangen und nie wiedergekommen.

    Als er dem Freund während eines ihrer nächtlichen Telefongespräche von dieser Andrea erzählte, sagte der, da pass mal auf, dass dir nicht eines Tages das BKA die Tür aufsprengt und deine schöne Bude mit einer Blendgranate beleuchtet.
    Das hatte dann ja, wenn auch ohne Blendgranate, später sein Freund Ewald getan.

    Die junge elegante Frau war ihm auch hier, im Watt, erschienen, wenn er an seine Eltern oder an seine Tochter dachte oder an diesen Mann, der mit seiner Frau in seinem trüben Kiez wohnte.
    Ein Mann mittleren Alters, der oft Wundmale im Gesicht trug, Striemen, Kratzer, blaugrüne Flecken. Eschenbach sah ihn nie morgens aus dem Haus treten. Offenbar stand er erst spät auf. Hin und wieder traf er seine Frau am Abend. Ihre zarten Gesichtszüge waren von Anstrengung und Übermüdung gezeichnet, die Augen saßen im Lidstrich wie in Klammern. Sie grüßte freundlich, zuweilen ein wenig zerstreut, als sähe sie ihn zum ersten Mal.
    Öfter traf er den Mann in einem nahegelegenen Café. Der Mann saß und las und zerschnitt mit einer Büroschere, die er in einer Ledertasche mitbrachte, die Zeitungen vom Vortag, die dort für ihn aufgehoben wurden. Er saß mit einer Tasse Kaffee, einem Glas Wasser da, las und schnitt, sah hin und wieder hinaus und in eine unbestimmbare Ferne.
    An einem Vormittag hatte Eschenbach sich zu dem Mann an den Tisch gesetzt, der sogleich seine Arbeit ruhen ließ. Gefragt nach seinem Tun, erklärte er, das seien die Berichte und Kommentare der deutschen Zeitungen über den Iran, die er sammle. Teilweise seien sie unhaltbar vereinfachend und

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