Vogelweide: Roman (German Edition)
falsch. Dabei schnippte er mit der Schere. Sein rechtes Auge war verquollen, ein Bluterguss hatte den Tränensack blau anlaufen lassen. Eschenbach wollte ihn fragen, ob er von irgendwelchem fremdenfeindlichen Pöbel geschlagen worden sei. Aber er verbot es sich. Es sprang ja buchstäblich ins Auge.
Der Mann erzählte, wie er vor vier Jahren aus Persien geflohen war. Er hatte als Lehrer Deutsch und Französisch unterrichtet, war, weil er Der Mensch in der Revolte von Camus im Unterricht behandelt hatte, denunziert und daraufhin aus dem Schuldienst entlassen worden. Nachdem er an einer Demonstration teilgenommen hatte, war er verhaftet worden und fünf Wochen im Gefängnis gewesen. Durch Hilfe eines befreundeten Regisseurs konnte er nach Deutschland ausreisen. Frau und Kinder hatte er zurücklassen müssen.
Seinem Asylantrag sei noch immer nicht stattgegeben worden. Wie eigentümlich freundlich sich diese bürokratische Wortbildung aus seinem Mund in dem melodisch fremden Klang anhörte. Arbeiten dürfe er nicht. Seine Freundin verdiene das Geld als Krankenschwester und fahre morgens oder abends, je nach Schicht, in die Charité.
Er saß zu Hause, in dieser kleinen Wohnung, las und schrieb. Er schrieb täglich, tauschte sich über das Internet aus mit anderen Geflohenen in Paris, London, New York, aber auch in Essen, Kiel und Uetersen. Ihr Schreiben galt dem Umsturz, galt dem Kampf gegen die Herrschaft der Mullahs, dem Trost und der Ermutigung.
Einmal überraschte er Eschenbach mit der Frage, ob er mit dem Eschenbach aus dem Mittelalter verwandt sei.
Nein. Leider nicht.
Daraufhin rezitierte der Geschlagene den Dichter Hafis auf Persisch. Und danach eine Strophe aus dem West-östlichen Divan:
Nun öffnet sich die Stirne klar,
Dein Herz damit zu glätten,
Vernimmst ein Lied so froh und wahr,
Den Geist darin zu betten.
Sein Deutsch klang so weich, wundersam auf den Vokalen ausruhend.
Manchmal, abends, begann hinter der Wohnungstür des Zeitungsausschneiders ein Geschrei, ein Kampf, unverkennbar die Stimme einer Frau, die schrie. Beim ersten Mal wollte er eingreifen, zögerte aber, weil das Geschrei, als ahnten die Streitenden, dass jemand vor ihrer Tür stand, die Hand am Klingelknopf, verstummte. Das nächste Mal wollte er, wenn das Schreien begann, sogleich klingeln, um dem Kampf, der da drinnen tobte, ein Ende zu bereiten, dabei dachte er an die so verletzlich wirkende Frau. In den nächsten Wochen aber sah er immer häufiger die Spuren der Gewalt im Gesicht des Mannes. Kratzspuren, ein blaugrün unterlaufenes Auge. Ein Pflaster auf der Stirn. Eine geschwollene, an einer Stelle aufgeplatzte Lippe. Aber nie fand sich auch nur die geringste Spur einer Verletzung an der Frau.
Der Mann sprach nicht über seine Wunden, obwohl sie so sichtbar waren. Und Eschenbach fragte auch nicht danach.
Vor der Wohnungstür des Persers lag eine Fußmatte mit der Aufschrift: Immer schön auf dem Teppich bleiben. Eschenbach wusste nicht, ob diese Botschaft wegen der häufigen lautstarken Streitereien dalag, also ironisch gemeint, oder nur albern war. Auch das mochte er nicht erfragen.
Aber gern hätte er diesen Hafis gefragt, wie er und diese zarte Frau einander kennengelernt hatten. Wie er war, dieser Anfang, als sie einander nur gut waren. Und wie es zu dieser Liebe in Kampf und Schmerz gekommen war. Vielleicht würde er sagen, ich bitte sie, mich zu schlagen, weil ich fühllos geworden bin, weil das Grau des Himmels mich erdrückt. Weil die Leute, die sich von ihren Hunden durch die Straße ziehen lassen, mit Mordgedanken umgehen. Ich sehe in ihren Augen Hass. Ich sehe dieses: Verschwinde. Ich sehe das Tötenwollen.
In der dritten auf der Etage gelegenen Wohnung lebte ein älterer Mann. Wenn er ihn traf, begrüßte der Alte ihn jedes Mal mit einem flotten Spruch: Das Wetter heute, fürchterlich, keinen Hund möchte man rausschicken. Aber wir sind ja keine Hunde. Und danach sagte er: Nichts für ungut. Dieser Nichts-für-ungut-Rentner und Kleingärtner, der mit einem Korb zurückkam, darin Karotten, von denen er eine Eschenbach mit den Worten rein bio schenkte, schwärmte von dem als Dünger unvergleichlichen Pferdemist. Er fahre mit dem Rad zum Flughafen Tempelhof, wo die Polizeistreifen auf Pferden unterwegs seien. Dort sammle er die Pferdeäpfel auf.
Das sind die Karotten, sehen Sie, und er hielt Eschenbach eine große, orangegelbe, grünstrunkige Karotte hin. Probieren Sie.
Danke.
Später wusch Eschenbach die
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