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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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das Wasser kommen?
    Eine Jahrhundertsturmflut, sagte er und sah in ihren Augen ein ängstliches Erstaunen, und bevor sie die Frage stellen konnte, sagte er, die neue Hütte steht auf noch höheren Holzpfählen. So hoch kommt keine Flut.
    Er zeigte zu den Kamtschatkarosen, dort, da hinten sitzt ein Falke. Ein Vogel mit scharfen Augen. Die haben ihm nicht genutzt, als ihn ein Sturm vor ein paar Tagen vom Festland herübergeweht hat. Es ist der einzige Falke, den ich hier gesehen habe. Ein Baumfalke. Er gehört auch nicht hierher.
    Und jetzt?
    Er wird zurückkehren, wenn er wieder bei Kräften ist.
    Sie gingen durch den Sand, sanken bei jedem Schritt ein.
    Was machen die Kinder?
    Die Großen besuchen die Schule, in L.A. Wie das aus ihrem Mund kam, dieses El-Ey. Und nach einer kurzen Pause sagte sie: Jonas ist hoch aufgeschossen, in diesem Jahr, und sie zeigte auf die Höhe seiner Hüfte, für seine fünf Jahre sehr groß.
    So wie sie von den beiden Kindern nur nach der Geburtenfolge sprach, als könne er deren Namen vergessen haben, dann aber den Jüngsten beim Namen nannte, bekam der Name Jonas umso mehr Gewicht. Spricht gut englisch und kann schon etwas lesen.
    Wenn sie sprach, waren die sechs Jahre Amerika herauszuhören. Wie willig das Deutsche sich doch dieser amerikanischen Dehnung anpasste, sich ihr lasziv hingab.
    Er dachte an den Jungen, der Jonas hieß und den er nie gesehen hatte. Aber er vermied es weiterzufragen. Darum sagte er nur: Das ist schön.
    Sie gingen eine Zeitlang nebeneinander und blickten in verschiedene Richtungen, als sei in der Ferne etwas Wichtiges zu sehen, dort, wo nur Sand, Strandhafer und ein paar struppige Büsche waren.
    Die Dünen, die noch nicht vom Strandhafer gefestigt sind, verändern sich, er hat es oft auf der Düne liegend beobachtet, wie der Sand rieselte, dort ein schmaler Grat vor einem Strandhaferbüschel, dahinter, bei starkem Wind bildeten sich Wirbel, häufelten schnell kleine, wachsende Sandkegel an, hinter denen wieder neue Grate entstanden. Kein Grün sprang hier ins Auge, nur dieses fein abgestufte Grau, ins Gelbbraun wechselnd, und traf ein jäher Sonnenstrahl die Düne, leuchtete es Weiß, mit Schatteneinschnitten. Bei starkem Wind mit Böen bildeten sich Sandfahnen, drehten sich in Wirbeln hoch.
    Manchmal, sagte er, sitze ich und beobachte, wie die Insel wandert, die winzigen Verfrachtungen, eine chaotische Umgestaltung.
    Was hat dich hergetrieben?

    Abermals sagte er, die Arbeit. Hier herrscht doch das, was ihr in eurer Gruppe damals diskutiert habt, Nachhaltigkeit. Ich lebe das hier. Er hätte auch sagen können, die Ruhe, die Einsamkeit.
    Sie saßen eine lange Zeit und blickten hinaus über das Watt, und weit, sehr weit draußen war die Gischt der Brandung zu sehen.
    Er fragte sie dann doch. Und Ewald?
    Den habe sie zuletzt in den Staaten gesehen, sagte sie, mit den Kindern, vor gut einem Monat. Auch wenn es so schlicht klinge, er habe seinen Frieden gemacht mit ihr. Keine Vorwürfe, keine Anspielungen. Im Moment sei er in China, die Kleinstadt, die jetzt tatsächlich gebaut werde. Er ist ziemlich unter Druck. Beim Telefonieren seien sie jedes Mal unterbrochen worden. Diesmal werde ich ihn nicht treffen, sagte sie, nicht in Berlin. Ich muss zurück. Und nach einer abermaligen langen Pause sagte sie: Er wird bald wieder nach drüben kommen.
    Wie sonderbar das Drüben klang, dachte er, und noch sonderbarer das Hüben, dass doch hier meint.

    Vor drei Jahren war er zuletzt in New York. Der Reisebuchverlag hatte den Aufenhalt vermittelt. Ein Buch über Argentinien sollte erscheinen. Dann, das Manuskript war abgeliefert, stellte sich heraus, der Mann, der das geschrieben hatte, war nie dort gewesen. Wer weiß, wie viele Reiseführer aus Reiseführern abgeschrieben werden. Dieser Autor aber hatte besonders süffig improvisiert, sich auf Tangolokale spezialisiert. Hatte fabuliert, die schönen Frauen in seitlich geschlitzten Röcken, Strümpfe an Strapsen, junge, elegante Männer, gute Tänzer, braungebrannt, das Haar gegelt. Ein Karl May für die Partnerbörse. Allerdings sei der Mann in der Orthographie sicher, sagte der Redakteur. Kannst du das zurechtbiegen?
    Was soll ich daran biegen? Ich war nie in Argentinien.
    Willst du fliegen? Einen Augenblick hatte er nachgedacht und dann abgesagt. Ich habe keine Lust. Gut, sagte der Lektor, neuer Vorschlag: Du schreibst den Reiseführer um, ich schicke dir zwei, drei von der Konkurrenz, du vergleichst und entsaftest die

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